Digitale Bildung im Blindflug
Digitale Geräte sollen das Lernen in Schulen effizienter machen. Viele Bildungseinrichtungen haben deshalb bereits Tablets und Co. angeschafft. Doch zunehmend wird Kritik laut: Schadet die digitale Ausstattung mehr, als sie nützt? Wer hat Recht? Und welche Antwort kann die Forschung darauf geben?
Seit 2019 hat der Bund mit dem „Digitalpakt Schule“ ganze 5,2 Milliarden Euro in die Digitalisierung von Bildungseinrichtungen investiert. Besonders in NRW, Hessen und Bayern wurden viele Schülerinnen und Schüler 1:1 mit Tablets ausgestattet. Die Geräte werden sowohl im Unterricht als auch zu Hause genutzt – ein großer Schritt in Richtung zeitgemäße Bildung. Lehrkräfte entwickeln neue Unterrichtskonzepte, Weiterbildungen laufen. Deutschland scheint endlich aufzuholen und sich an den digitalen Vorreitern wie den Niederlanden und Dänemark zu orientieren, die schon fast zehn Jahre zuvor Tablets in ihren Schulen eingeführt haben.
Doch während in Deutschland das Verteilen der Tablets in vollem Gange war, wurden in Schweden, einem der Pioniere der Digitalisierung, kritische Stimmen laut. Im Frühjahr 2023 veröffentlichte das renommierte Karolinska Institut eine Stellungnahme, die auf die potenziellen negativen Folgen der Gerätenutzung im Unterricht hinweist. Die Wissenschaftler*innen nehmen an, dass digitale Geräte das Lernen behindern und vom Unterrichtsgeschehen ablenken. Hat Deutschland die Milliarden also in eine falsche Strategie gesteckt?
Wissenschaftliche Unsicherheiten
Ein genauerer Blick auf die in der schwedischen Stellungnahme zitierten Studien offenbart allerdings einige Schwächen. Viele Untersuchungen, die als Belege gegen den Einsatz von Tablets im Unterricht herangezogen werden, beziehen sich nicht einmal auf Schülerinnen und Schüler, sondern auf Erwachsene. Ohne wissenschaftliche Evidenz wird behauptet, dass die negativen Effekte auf Schüler*innen sogar noch größer sein müssten. Die meisten Studien testen den Effekt der Tablets zudem nur in einzelnen Unterrichtseinheiten. Das spiegelt jedoch nicht die regelmäßige Nutzung in Schulen und zu Hause wider. Wie aussagekräftig für die Ausgangsfrage sind diese Ergebnisse also wirklich?
Denn es gibt auch Belege für einen positiven Einfluss digitaler Geräte im Unterricht– diese wurden vom Karolinska Institut jedoch nicht erwähnt. Beispielsweise zeigen die Zusammenfassungen mehrerer Studien (sogenannte Meta-Analysen) zum Thema (Sung et al., 2016; Tamim et al., 2015), dass Tablets und andere mobile Endgeräte das Lernen im Vergleich zu traditionellen Methoden, z.B. Frontalunterricht mit Büchern, verbessern können. Doch die Autor*innen betonen, dass dieser Effekt von vielen weiteren Faktoren abhängt, denn die Realität ist komplex. Sie kennen es vielleicht selbst, wenn Sie ein neues Gerät oder eine App ausprobieren. Mit einigen Funktionen muss man sich lange beschäftigen, um sie zu verstehen. Manchmal hilft es, wenn eine andere Person dabei ist und Hilfestellungen gibt. Ähnlich ist es in der Schule: Die bloße Ausstattung mit Tablets garantiert weder Erfolg noch Misserfolg. Die Kompetenz der Lehrkräfte, soziale Interaktionen im Klassenzimmer und die didaktischen Konzepte im Rahmen der schulischen Tablet-Nutzung sind Faktoren, die systematisch untersucht werden müssen (Sung et al., 2016; Tamim et al., 2015).
Mehr Forschung, weniger Annahmen
Aktuell kann aus Perspektive der Forschung nicht eindeutig beantwortet werden, unter welchen Bedingungen Tablets die Lernleistung verbessern oder behindern. Doch ein „Zurück in die Steinzeit“, wie es nun auch deutsche Wissenschaftler*innen und Pädagog*innen vorschlagen (Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V., 2023), scheint keine Lösung zu sein. Die digitale Welt wird nicht verschwinden und Tablets aus den Klassenzimmern zu verbannen, wäre kaum zukunftsorientiert.
Gleichzeitig geht die momentane Strategie nicht auf – die digitale Ausstattung der Schulen voranzutreiben, ohne die tatsächlichen Auswirkungen zu kennen, ist wie mit verbundenen Augen ins Dunkel zu greifen. Was wir brauchen, ist eine evidenzbasierte Herangehensweise: gezielte Forschung, um herauszufinden, wann und wie digitale Geräte sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können.
Die Lektion für die Zukunft lautet daher klar: Erst forschen, dann investieren – und nicht umgekehrt.
Literaturverzeichnis
Tamim, R., Borokhovski, E., Pickup, D., Bernard, R., & Saadi, L. (2015). Tablets for teaching and learning: A systematic review and meta-analysis. Commonwealth of Learning. http://dx.doi.org/10.13140/RG.2.1.3670.5042
Sung, Y.-T., Chang, K.-E., & Liu, T.-C. (2016). The effects of integrating mobile devices with teaching and learning on students' learning performance: A meta-analysis and research synthesis. Computers & Education, 94, 252–275. https://doi.org/10.1016/j.compedu.2015.11.008
Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (2023). Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen. https://xn--die-pdagogische-wende-91b.de/wp-content/uploads/2023/11/mora...
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