Steht uns unsere sexuelle Orientierung ins Gesicht geschrieben?

Es heißt, das Gesicht eines Menschen sei der Spiegel seiner Seele. Doch kann man in unseren Gesichtern tatsächlich unsere individuellen Neigungen ablesen? Laut dem Psychologen Michael Kosinski reicht ein einziges Bild aus, um die sexuelle Orientierung eines Menschen vorherzusagen—mit Hilfe von Algorithmen.

rainbow girl Kosinski und sein Kollege von der Stanford University verwendeten 35 000 Fotos einer amerikanischen Dating-Plattform mit Informationen über sexuelle Präferenzen, um einen „Gesichtserkennungsalgorithmus“ zu trainieren – und das mit hoher Treffgenauigkeit: Anhand eines einzelnen Fotos konnte der Algorithmus in 81 % der Fälle korrekt zwischen homosexuellen und heterosexuellen Männern unterscheiden. Bei Frauen lag die Trefferquote bei 71%. Menschliche ProbandInnen, denen die gleichen Bilder zur Bewertung vorgelegt wurden, schnitten mit einer Trefferquote von nur 61% und 54% sehr viel schlechter ab.

Mit Hilfe derartiger Verfahren des maschinellen Lernens können große Datenmengen schnell analysiert und Muster in den Daten erkannt werden. Beispielsweise zeigte sich zudem, dass homosexuelle Frauen und Männer eher geschlechtsatypische Merkmale, Ausdrücke und Stylingmerkmale aufwiesen. Kurz gesagt: Homosexuelle Männer erschienen femininer und homosexuelle Frauen maskuliner. Die Daten zeigten weitere Trends bezüglich der Gesichtsmorphologie: Homosexuelle Männer hatten schmalere Kiefer, längere Nasen und eine größere Stirn, während homosexuelle Frauen größere Kiefer und eine kleinere Stirn aufwiesen. Die Forscher sehen die Ergebnisse ihrer Studie als Hinweis darauf, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen von pränatalen Hormonen abhängig ist, die wiederum auch die Gesichtsmorphologie beeinflussen. Demnach soll die Sexualität keine Entscheidung, sondern eine natürliche Neigung sein, die bereits mit der Geburt festgelegt ist.

Nach Veröffentlichung der Studie wurden einige Kritiken und ethische Bedenken laut. Zum einen greift eine Gesichtserkennungssoftware, die derartig hochsensible und private Informationen über eine Person offenlegen kann, deutlich in die Privatsphäre von Menschen ein. Schließlich sollte es einer Person selbst überlassen sein, ob sie ihre sexuelle Orientierung preisgibt oder nicht. Zum anderen birgt die Software ein hohes Missbrauchspotenzial: In über 70 Ländern ist Homosexualität strafbar, in einigen Ländern droht sogar die Todesstrafe — eine unfreiwillige Offenbarung der sexuellen Orientierung würde für manche Personen also eine reelle Gefahr darstellen.

Alexander Todorov, Forscher an der Princeton University, und seine KollegInnen widersprechen den Aussagen von Kosinski. Das Forschungsteam befragte 8 000 AmerikanerInnen auf der Online-Umfragen-Plattform Mechanical Turk und stellte ihnen 77 Ja-/Nein-Fragen wie etwa „Tragen Sie Lidschatten?“, „Tragen Sie eine Brille?“ oder „Haben Sie einen Bart?“. Zudem wurden Fragen zu Geschlecht und sexueller Orientierung gestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich homosexuelle und heterosexuelle Personen nicht, wie von Kosinski angenommen, in ihrer Gesichtsstruktur unterscheiden, sondern dass es schlichtweg Unterschiede in der Selbstdarstellung gibt. Heterosexuelle Frauen schminken sich demnach häufiger und tragen seltener Brillen als homosexuelle Frauen. Heterosexuelle Männer hingegen haben mehr Gesichtsbehaarung, tragen seltener Brillen und haben einen dunkleren Teint als homosexuelle Männer. Heterosexuelle Männer tendieren außerdem dazu, sich von unten zu fotografieren, was optisch zu einem größeren Kinn, einer kürzeren Nase und einer kleineren Stirn führt. Die Befunde von Kosinski könnten also zum Teil aus der Perspektive der ausgewerteten Bilder resultieren.

Die Schlussfolgerung von Kosinski, dass pränatale Hormone unsere sexuelle Orientierung festlegen, ist folglich nicht korrekt. Laut Todorov sind die optischen Unterschiede darauf zurückzuführen, dass sich heterosexuelle und homosexuelle Personen unterschiedlich präsentieren. Es sei falsch, davon auszugehen, dass vom Erscheinungsbild einer Person, wie wir es z.B. auf einem Foto einer Datingplattform sehen, ganz eindeutig ihre Persönlichkeitseigenschaften abgelesen werden können. Eine Person kann auf unterschiedlichen Fotos vollkommen unterschiedliche Eindrücke vermitteln.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es trotz enormer Fortschritte in der Gesichtserkennung deutliche Grenzen dieser Methoden gibt und algorithmenbasierte Vorhersagen kritisch zu hinterfragen sind. Ein bisschen Vorsicht bei der Veröffentlichung von Fotos im Internet kann trotzdem nicht schaden.

Quellen:

Wang, Y., & Kosinski, M. (2018). Deep neural networks are more accurate than humans at detecting sexual orientation from facial images. Journal of Personality and Social Psychology114(2), 246.

Todorov, A. “Do algorithms reveal sexual orientation or just expose our stereotypes? Medium Blog website. https://medium.com/@blaisea/do-algorithms-reveal-sexual-orientation-or-just-expose-our-stereotypes-d998fafdf477/ Retrieved 05 January 2020.

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