Warum werfen wir unsere Erwartungen nicht über Bord, wenn sich andere überraschend verhalten?
Oft treten wir anderen Menschen mit bestimmten Erwartungen gegenüber. Beispielsweise würden Sie von Ihrem stillen, zurückhaltenden Bekannten erwarten, dass er bei sozialen Anlässen lieber im Hintergrund bleibt. Was aber, wenn Sie ihn in einer Bar antreffen und er nicht mehr aufhört, zu reden – würden Sie daraufhin Ihren Eindruck von ihm komplett überdenken?
Unsere Eindrücke von anderen Personen basieren häufig auf vorherigen Erfahrungen mit ihnen, etwa aus persönlichen Gesprächen. Oft entspringen sie auch prototypischen Vorstellungen über bestimmte Personengruppen wie z.B. dem Stereotyp des „schüchternen Gamers”. All das führt dazu, dass wir nur selten vollkommen unvoreingenommen mit anderen interagieren. Meistens haben wir schon im Vorhinein eine Meinung gebildet und damit entsprechende Erwartungen aufgebaut. Wenn diese wie im oben erwähnten beispielhaften Fall des Bekannten verletzt werden, würden die meisten wegen einer einzelnen Beobachtung wohl nicht gleich den Gesamteindruck verwerfen. Stattdessen liegt es nahe, zuerst nach Erklärungen für das unerwartete Verhalten zu suchen: Hat eine besondere Situation diese untypische Redseligkeit herbeigeführt? Könnte seine Begleitperson etwas damit zu tun haben, die vielleicht seine gesellige Seite aus ihm herauskitzelt?
In jedem Fall würde so eine Erwartungsverletzung unsere Aufmerksamkeit wecken und möglicherweise auf die spezifische Situation lenken, in der sie aufgetreten ist. Das ermöglicht es, besondere Eigenschaften der Situation als Erklärung heranzuziehen, zum Beispiel die Bar oder die Begleitperson des Bekannten. So beseitigen wir Widersprüche in unserer Wahrnehmung und haken das unerwartete Verhalten als Ausnahme ab. Der grundsätzliche Eindruck von einer Person bleibt auf diese Weise gültig und wird beibehalten. Erwartungen und Stereotype sind meistens robust gegenüber Veränderungen und helfen so, uns in unserem sozialen Umfeld zurechtzufinden und es vorhersagbar zu halten (Roese & Sherman, 2007).
Doch wann genau werden Eindrücke als situationsspezifisch wahrgenommen?
Dies passiert vor allem dann, wenn neue Eindrücke vorangegangenen Informationen klar widersprechen. In einer Studie haben Teilnehmende entweder eine fiktive Person kennengelernt, die zuerst negatives und anschließend in einem anderen Kontext positives Verhalten zeigte, oder eine, die das Ganze in umgekehrter Reihenfolge demonstrierte (Rydell & Gawronski, 2009). Die Teilnehmenden haben das gegensätzliche Verhalten anschließend ausschließlich mit diesem speziellen Kontext verbunden. Hingegen haben sie in allen weiteren, neuen Situationen Verhaltensweisen erwartet, die mit ihrem ersten Eindruck übereinstimmen. Diesen ersten Eindruck haben sie also verallgemeinert. Entsprechend haben sich ihre Erwartungen nicht mehr grundlegend verändert, da Verhalten, das nicht zum ersten Eindruck passte, dem Kontext und nicht der Person zugeschrieben wurde.
Hieran sind verschiedene psychologische Prozesse beteiligt, die dafür sorgen, dass wir Informationen unterschiedlich verarbeiten, je nachdem, ob sie unseren Erwartungen entsprechen oder nicht. Ein Grundprinzip des Lernens besagt, dass Menschen ihre Aufmerksamkeit bevorzugt auf neue Informationen richten. So können sie daraus so viel Erkenntnis wie möglich gewinnen. Verhalten, mit dem wir nicht gerechnet haben, fordert folglich mehr Aufmerksamkeit als Verhalten, welches wir ohnehin erwartet hätten. Durch diese zusätzliche Aufmerksamkeit speichern wir nicht nur das beobachtete Verhalten in unserem Gedächtnis ab, sondern auch die Eigenschaften der Situation. So entstehen zwei unterschiedliche Arten von Gedächtnisrepräsentationen derselben Person: Die erste basiert auf den anfänglichen Informationen und ist abstrakt und vom Kontext unabhängig. Die davon losgelöste zweite bildet das widersprüchliche Verhalten zusammen mit den Eigenschaften der Situation ab (Gawronski et al., 2018). Unser Gehirn packt die Informationen sozusagen in zwei verschiedene Schubladen, anstatt sie in einer gemeinsamen zu kombinieren. Dadurch wird die zweite Repräsentation in den meisten Fällen nicht vollständig in das Netzwerk unserer Erwartungen integriert und diese bleiben weitgehend unangetastet. Das bedeutet: In zukünftigen Situationen orientieren wir uns weiter an der abstrakten, verallgemeinerten Erwartung.
Wenn Personen sich also anders verhalten als erwartet, stufen wir dieses Verhalten oft als situationsbedingte Ausnahme ein, ohne unser bereits bestehendes Bild der Person vollständig anzupassen. Möglicherweise werden Sie also von Ihrem Bekannten zwar dann ein geselligeres Verhalten erwarten, wenn Sie ihn erneut mit der Begleitperson aus der Bar antreffen. Abseits dessen sehen Sie ihn aber vermutlich weiterhin als zurückhaltenden Menschen an und erwarten somit auch weiterhin zurückhaltendes Verhalten.
Quellen:
Gawronski, B., Rydell, R. J., De Houwer, J., Brannon, S. M., Ye, Y., Vervliet, B., & Hu, X. (2018). Contextualized attitude change. In Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 57, pp. 1-52). Academic Press. https://doi.org/10.1016/bs.aesp.2017.06.001
Roese, N. J., & Sherman, J. W. (2007). Expectancy. In A. W. Kruglanski & E. T. Higgins (Eds.), Social Psychology: Handbook of Basic Principles (pp. 91–115). The Guilford Press.
Rydell, R. J., & Gawronski, B. (2009). I like you, I like you not: Understanding the formation of context-dependent automatic attitudes. Cognition and Emotion, 23(6), 1118-1152. https://doi.org/10.1080/02699930802355255
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