Erinnern ohne Kurzzeitgedächtnis – Auf der Überholspur in die Großhirnrinde
Erinnern ohne Kurzzeitgedächtnis – was paradox klingt, brachten Wissenschaftler*innen der israelischen Haifa Universität indirekt ihren Proband*innen bei. Mit einer von Kleinkindern abgekupferten Lernmethode gelang es Proband*innen mit Schädigungen des Kurzzeitgedächtnisses trotzdem, neues Wissen zu erwerben.
„Amnestia“ ist griechisch und bedeutet Vergessen. So beschreibt das zugehörige Krankheitsbild, die Amnesie, den Verlust des Gedächtnisses durch Verletzungen oder Krankheit. Meist ist hierbei der Hippocampus betroffen, eine kleine Struktur unter der Großhirnrinde, die tatsächlich aussieht wie ihr Namensgeber, das Seepferdchen. Den Amnestiker*innen ist es nicht mehr möglich, neues Wissen auch nur für mehrere Sekunden aufrechtzuerhalten. Denn der Hippocampus und die umliegenden Gebiete des Gehirns sind normalerweise für das Lernen unerlässlich – sie bilden gewissermaßen unser Kurzzeitgedächtnis. Beim bewussten Auswendiglernen, zum Beispiel einer neuen Vokabel, dient der Hippocampus als Zwischenspeicher. Erst in einem schrittweisen, Wochen bis sogar Jahre dauernden Prozess werden neue Inhalte in das Langzeitgedächtnis überführt. Dies stellt man sich modellartig als ein in der Großhirnrinde liegendes, hierarchisches Netzwerk vor, in dem Informationen miteinander verknüpft und nach Kategorien sortiert werden. Das hat Vorteile, denn neue Informationen können so direkt in einen Kontext eingebettet werden. Von Nachteil ist diese Art der Einspeicherung allerdings für schnelles Lernen. Würden Informationen direkt im semantischen Netzwerk eingespeichert, würden sich die sensiblen neuronalen Aktivierungsmuster, auf denen das Netzwerk fußt, verändern und alte Informationen gelöscht werden. Der Hippocampus dagegen organisiert eingespeicherte Informationen in inhaltlich definierten Einheiten, die allesamt voneinander unabhängig sind. Dies erlaubt die schnelle Einspeicherung vieler Gedächtnisspuren.
Beim Betrachten dieser Befunde scheint es verwunderlich, dass die wirklichen Lernprofis kleine Kinder sind. Nie wieder lernt ein Mensch so viel und schnell wie in den ersten Lebensjahren und das obwohl der Hippocampus in diesem Alter noch nicht richtig ausgereift und leistungsfähig ist. Der Unterschied zwischen kindlichem Lernen und der herkömmlichen eher trockenen Variante liegt beinahe auf der Hand und ließ sich durch Forschung zum Spracherwerb bei Kindern bestätigen. Kinder lernen Neues zufällig im Alltag. Liest zum Beispiel eine Mutter mit ihrem Kind ein Bilderbuch über Wolf und Fuchs, so kann sich das Kind, das den Wolf schon kennt, erschließen, dass das andere abgebildete Tier ein Fuchs sein muss. Zudem sieht es, dass der Fuchs im Wald lebt. So, vermuten die Forscher*innen, kann der Inhalt, also der Fuchs, direkt sinnvoll in das Gedächtnisnetzwerk der Großhirnrinde eingefügt werden. Daher nennt sich diese Lernmethode „Fast Mapping“, also schnelles Kartieren (im Netzwerk).
In ihrer Studie versuchte das israelische Forscherteam die natürliche kindliche Lernumgebung im Labor nachzustellen und es so Amnestiker*innen mit Hippocampusschädigung zu ermöglichen, neue Inhalte zu lernen. Gesunde Proband*innen und Amnestiker*innen lernten hierfür die Assoziation zwischen Namen und Bildern unbekannter Tiere. Für das Fast Mapping wurde den Versuchspersonen nicht gesagt, dass es sich um eine Gedächtnisaufgabe handelte. Sie beantworteten lediglich eine Frage zu zwei gemeinsam präsentierten Tieren – jeweils einem bekannten und einem unbekanntem, wie in diesem Beispiel zu Numbat und Zebra: „Zeigt der Schwanz des Numbats nach oben?“ Auf diese Weise mussten die Proband*innen die Assoziation zwischen Bild und Namen des Tieres aktiv schlussfolgern. Das Zebra hält seinen Schwanz offensichtlich nicht hoch, das Tier auf der anderen Seite dagegen schon. Es muss daher der Numbat sein. Zudem war durch das Zebra ein inhaltlicher Kontext gegeben. Zur Kontrolle sollten Amnestiker*innen wie Gesunde noch einige der Tiere gezielt auswendig lernen. Hier zeigte sich in einem anschließenden Wiedererkennungstest für die Patient*innen mit Gedächtnisschädigung ihr Defizit deutlich. Sie erkannten nicht mehr Assoziationen als statistisch allein durch Zufall möglich gewesen wäre. Von den inzidentell durch Fast Mapping gelernten Tieren dagegen erkannten die Amnestiker*innen deutlich mehr Wort-Bild Assoziationen wieder. Sie schnitten hier sogar genauso gut ab wie die Gesunden Studienteilnehmer, die ihnen beim bewussten auswendig lernen deutlich überlegen waren. Die Gedächtnislücke von Amnestiker*innen lässt sich bisher durch Fast Mapping also zwar nicht ganz schließen, aber vielleicht können Amnestiker*innen auf diese Weise bald auch im Alltag so manche Lücke etwas flicken.
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