„Mann kommt, Frau nicht“ – Ist Anspruch auf sexuelles Vergnügen eine Frage des Geschlechts?
Geschlechterungleichheiten zwischen Frauen und Männern zeigen sich auch in intimen Sphären wie dem Bereich der Sexualität – ein Beispiel ist die Orgasmus-Lücke. Aber haben diese Ungleichheiten etwas damit zu tun, dass Männern mehr Anspruch auf sexuelles Vergnügen zugeschrieben wird als Frauen?
Die „Orgasmus-Lücke“ beschreibt den Umstand, dass Frauen vor allem in heterosexuellen Beziehungen weniger Orgasmen erleben als Männer*. Eine aktuelle Studie näherte sich der Frage, ob männliches Anspruchsdenken (eng. male entitlement) etwas mit der Orgasmus-Lücke zu tun hat (Klein & Conley, 2021).
In der wissenschaftlichen Literatur bezieht sich das Phänomen der Anspruchshaltung (engl. entitlement) in der Regel auf die Überzeugung einer Person, eine bevorzugte Behandlung oder Belohnung zu verdienen (Jordan et al., 2017). Dabei spielt die gesellschaftliche Stellung einer Person bei der Frage, was jemandem zusteht, eine ausschlaggebende Rolle (Feather, 2003; Major, 1994). Vereinfacht gesagt stehen einer Königin mehr Privilegien zu als einer Bäuerin. In den meisten Gesellschaften haben Männer nach wie vor mehr Macht als Frauen. Entsprechend ihrer besseren sozialen Position zeigen Studien, dass Männer in einer Reihe von Bereichen außerdem eine höhere Anspruchshaltung zeigen. So zahlen sich Männer in Laborstudien selbst mehr Geld für die Bearbeitung einer identischen Aufgabe aus als Frauen dies tun (Major, 1994).
Doch zeigt sich eine höhere männliche Anspruchshaltung auch dann, wenn es um sexuelles Vergnügen geht? Um dieser Frage nachzugehen, wurden Probanden in einer Teilstudie gebeten, eine kurze Geschichte zu lesen. In der Geschichte ging es um eine sexuelle Begegnung zwischen den fiktiven Charakteren “Jasmin” und “Michael”, wobei keiner der beiden einen Orgasmus erlebte. Wenn Orgasmuserleben als männliches Privileg verstanden werden kann, sollte vor allem der abwesende Orgasmus von Michael bei Probanden Unbehagen auslösen. Wie erwartet schrieben Probanden Michael mehr negative Gefühle zu. So dachten sie, dass Michael nach der sexuellen Begegnung z.B. frustrierter und unbefriedigter wäre als Jasmin, wenn er keinen Orgasmus erlebt hatte. Außerdem wählten die Probanden häufiger Michael, wenn sie direkt und explizit danach gefragt wurden, wer der beiden mehr Anrecht auf einen Orgasmus gehabt hätte.
In einer weiteren Teilstudie wurden Probanden gebeten, sich eine sexuelle Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann vorzustellen. Anschließend wurden sie gefragt: „Stellen Sie sich vor, dass nur eine(r) von den beiden einen Orgasmus haben könnte: Wer sollte den Orgasmus haben?“ Probanden wurden dann „gezwungen“, eine Entscheidung zu treffen, indem sie zwischen den Antwortkategorien ‘Frau’ und ‘Mann’ entscheiden mussten. Das Ergebnis war recht eindeutig: Zwei Drittel priorisierte hierbei den männlichen Orgasmus. Interessanterweise unterschieden sich Frauen und Männer nicht in ihrem Antwortverhalten. So schrieben sowohl weibliche als auch männliche Versuchspersonen eher Männern den Orgasmus zu. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass sowohl Frauen als auch Männer sich diese Dynamik zu eigen machen, wobei Frauen auch die Vorstellung akzeptieren, dass sie sexuelles Vergnügen weniger verdienen.
Zusammenfassend weisen die Ergebnisse dieser Studie darauf hin, dass die Mehrzahl der ProbandInnen die Auffassung vertrat, dass Männern ein Orgasmus mehr zusteht als Frauen. Diese Vorstellung mag eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung der Orgasmus-Lücke spielen und stellt somit ein Hindernis im Erreichen von Geschlechtergleichheit im Bereich der Sexualität dar.
* Die in diesem Beitrag beschrieben Studien beziehen sich auf Menschen mit jeweils biologisch weiblichem bzw. männlichem Geschlecht und einer entsprechenden Identifikation als Frau bzw. Mann.
Quellen:
Feather, N. T. (2003). Distinguishing between deservingness and entitlement: Earned outcomes versus lawful outcomes. European Journal of Social Psychology, 33 (3), 367–385.
Jordan, P. J., Ramsay, S., & Westerlaken, K. M. (2017). A review of entitlement. Organizational Psychology Review, 7(2), 122–142.
Klein, V., & Conley, T. D. (2021). The role of gendered entitlement in understanding inequality in the bedroom. Social Psychological and Personality Science, 19485506211053564.
Major, B. (1994). From social inequality to personal entitlement: The role of social comparisons, legitimacy appraisals, and group membership. Advances in Experimental Social Psychology, 26, 293–355.
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