Selbstkonstruktion: Wie unsere soziokulturelle Umwelt das eigene Selbstverständnis prägt
Die meisten Menschen fragen sich im Laufe ihres Lebens: „Wer bin ich?“ Vor allem im Kontakt und Vergleich mit anderen Menschen werden wir mit dieser Frage konfrontiert – sie wird uns dann oft erst überhaupt bewusst. Wie beschreibst Du Dich dann? Vielleicht: „Ich bin neugierig, kreativ, ehrgeizig“. Oder eher: „Ich bin Sohn, Freundin, Vorgesetzte“. Das eigene Selbstverständnis ist jedoch kein Zufall. Vielmehr spiegelt es wider, wie eine Person in ihrer soziokulturellen Umwelt geprägt worden ist.
Die Prägung des eigenen Selbstverständnisses durch die soziokulturelle Umwelt wird in der Kulturpsychologie mit dem Konzept der Selbstkonstruktion erfasst (Engl.: „self-construal“). Anhand des Konzeptes wird beschrieben, wie unser Selbstverständnis geformt wird. Hazel Markus und Shinobu Kitayama (1991) unterscheiden dabei in ihrer Self-Construal Theorie zwischen independenten und interdependenten Selbstkonstruktionen.
Menschen, die eher eine independente Selbstkonstruktion haben, werden so geprägt, dass ihnen Autonomie, Einzigartigkeit und Selbstverwirklichung bedeutsam sind. Sie verstehen sich in verschiedenen Situationen und sozialen Rollen als möglichst gleich, z. B.: „ich bin höflich“; ihr Selbstbild ist einheitlich und stabil.
Und Menschen, die eher eine interdependente Selbstkonstruktion haben, werden so geprägt, dass ihnen Verbundenheit, soziale Harmonie und Eingebundensein in Beziehungen bedeutsam sind. Sie verstehen sich in unterschiedlichen sozialen Rollen unterschiedlich, z. B.: „als Angestellte bin ich höflich“; ihr Selbstbild ist flexibel und angepasst. Markus und Kitayama argumentierten, dass die so genannten „westlichen Kulturen“ wie England, die USA oder Westdeutschland eher das independente Selbstverständnis fördern, während ostasiatische, afrikanische oder lateinamerikanische Kulturen eher interdependente Selbstbilder prägen.
Vignoles et al. (2016) haben diesen binären Ansatz weiterentwickelt, um aufzuzeigen, dass es auch innerhalb von Kulturen eine Diversität bezüglich der verschiedenen Selbstverständnisse gibt, wobei sie den Fokus auf die ursprüngliche Theorie beibehalten. In einer groß angelegten Studie mit Daten aus 55 kulturellen Gruppen aus 33 verschiedenen Ländern fanden sie heraus, dass es nicht nur zwei Formen gibt, in denen das Selbstverständnis soziokulturell geprägt wird; also nicht entweder independent oder interdependent. Ihr Fazit: es ist facettenreicher. Sie untersuchten verschiedene Arten, wie eine Person sich selbst und ihre Beziehung zu anderen sieht.
Dabei unterschieden sie sieben Dimensionen des persönlichen und sozialen Lebens. Beispielweise die Dimension „Entscheidungen treffen“: eine Person, die diesbezüglich eher independent geprägt wurde, würde versuchen selbst über die eigene Zukunft zu entscheiden wohingegen eine Person, die diesbezüglich eher interdependent geprägt wurde, die Wünsche anderer Menschen in die Entscheidung stärker einbeziehen würde. Sie vertreten die Auffassung, dass diese Prägungen insbesondere beeinflussen, wie wir uns selbst und unsere Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen und gestalten.
Des Weiteren weisen Vignoles et al. (2016) in ihrem Artikel darauf hin, dass Gesellschaften nicht streng entweder Individualität oder Gemeinschaftssinn fördern, sondern unterschiedliche Formen von Unabhängigkeit und Verbundenheit. So gibt es Gesellschaften, in denen persönliche Kontrolle und Selbstbestimmung mit einem starken Gemeinschaftsgefühl koexistieren. Andere wiederum legen Wert auf soziale Anpassung, ohne die Autonomie völlig aufzugeben.
Was bedeuten diese Forschungsergebnisse nun konkret für einen selbst? Einerseits zeigen sie auf, dass das Selbstverständnis kein starres Konstrukt ist, sondern ein flexibles Gefüge, das sich an soziale und kulturelle Kontexte anpassen kann. Andererseits verdeutlichen sie, dass die Konstruktion des Selbst nicht nur von dem Individuum bestimmt wird, sondern auch durch die soziokulturelle Umwelt geprägt wird. Vielleicht lohnt es sich also, die eingangs gestellte Frage einmal zu überdenken: „Wer bin ich – und mit wem bin ich geworden, wer ich bin?“
Literaturverzeichnis
Markus, H. R. & Kitayama, S. (1991). Culture and the self: Implications for cognition, emotion, and motivation. Psychological Review, 98(2), 224–253. https://doi.org/10.1037/0033-295X.98.2.224
Vignoles, V. L., Owe, E., Becker, M., Smith, P. B., Easterbrook, M. J., Brown, R., Gonzalez, R., Didier, N., Carrasco, D., Cadena, M. P., Lay, S., Schwartz, S. J., Des Rosiers, S. E., Villamar, J. A., Gavreliuc, A., Zinkeng, M., Kreuzbauer, R., Baguma, P., Martin, M., . . . Bond, M. H. (2016). Beyond the 'east-west' dichotomy: Global variation in cultural models of selfhood. Journal of Experimental Psychology: General,145(8) 966–1000. https://doi.org/10.1037/xge0000175
Bildquelle
Autor*innen
Artikelschlagwörter
Blog-Kategorien
- Corona (27)
- Für-Kinder (0)
- In-eigener-Sache (8)
- Interviews (11)
- Rechtspsychologie (24)
- Sozialpsychologie (227)
- Sportpsychologie (38)
- Umweltpsychologie (24)