Warum unser Gehirn Umweltmodelle zur Entscheidungsfindung nutzt – oder auch nicht
Warum nehmen wir jeden Morgen denselben Weg zur Arbeit oder essen gelegentlich die Chipstüte leer? Wie es scheint, bestimmen unsere Entscheidungstendenzen auch andere Aspekte unseres Lebens.
Was sich bewährt, wiederholen wir im Alltag fast automatisch. Wir verlassen morgens das Haus, steigen ins Auto und erreichen unseren Arbeitsplatz, ohne dabei nachzudenken. Dieser Automatismus wird uns durch eine verinnerlichte Kontrollstrategie ermöglicht, die auf erlernten Verknüpfungen zwischen alltäglichen Reizen und aufsummierten positiven oder negativen Resultaten unserer Handlung beruht, beispielsweise der erfolgreichen Ankunft im Büro. Es ist praktisch, uns auf diese Strategie zu verlassen, da wir so nicht jedes Mal einen neuen Weg planen müssen und dadurch kognitive Ressourcen sparen. Was aber, wenn es geschneit hat und es geschickter wäre, eine geräumte Straße zu wählen? Glücklicherweise haben wir eine weitere, „modellbasierte“ Kontrollform, die uns zwar kognitiv mehr abverlangt, aber auch flexibler ist. Im Vergleich zur ersten (auch „modellfreien“) Kontrolle, die erfolgreiche Handlungen wiederholt, trifft die modellbasierte Strategie Entscheidungen anhand eines inneren Modells der Umwelt und kann somit unter Berücksichtigung äußerer Faktoren und Wahrscheinlichkeiten alternative Handlungen oder Routen simulieren (Daw et al., 2005).
Beide Strategien sind in unserem Alltag hilfreich und arbeiten meist im Zusammenspiel. Dennoch gibt es individuelle Unterschiede hinsichtlich der Beteiligung beider Kontrollformen, die durch Computer-Experimente bestimmt werden und tatsächlich viele Verhaltensmuster erklären können (Daw et al., 2011). So wird angenommen, dass Verlass auf die modellfreie Strategie mit der Ausprägung von Angewohnheiten (z.B. alltägliche Fahrt zur Arbeit) zusammenhängt, aber beispielsweise auch damit, weiterzuessen, wenn wir nicht mehr hungrig sind. Das liegt unter anderem daran, dass die modellfreie Strategie sehr langsam und träge ist und wir dadurch manchmal Reizen weiternachgehen, auch wenn sie nicht mehr zielführend sind.
Sogar in verschiedenen klinischen Störungsbildern wurden verstärkte modellfreie oder Defizite in der modellbasierten Kontrollform festgestellt, beispielsweise in Suchterkrankungen, Ess- oder Zwangsstörungen (Voon et al., 2015). Das Bestreben, solche gemeinsamen „transdiagnostischen“ Prozesse zu identifizieren, die in verschiedenem Ausmaß Persönlichkeitsunterschiede in der Bevölkerung (z.B. hinsichtlich der Impulskontrolle), aber auch störungsübergreifend Verhaltensprobleme erklären können, ist ein spannender aktueller Forschungsansatz (Gillan et al., 2016). Künftig könnte er uns helfen, klinische Auffälligkeiten und deren kognitive Ursachen gezielter zu verstehen und uns weniger auf Grenzen zwischen Diagnosen oder auf Symptome zu fokussieren. Mit neuen Technologien der Neurowissenschaften wird es zudem einfacher, solche Mechanismen auch auf einer tieferen biophysiologischen Ebene zu untersuchen und durch Therapie oder Medikamente gezielt zu beeinflussen.
Quellen:
Daw, N. D., Niv, Y., & Dayan, P. (2005). Uncertainty-based competition between prefrontal and dorsolateral striatal systems for behavioral control. Nature Neuroscience, 8(12), 1704-1711.
Daw, N. D., Gershman, S. J., Seymour, B., Dayan, P., & Dolan, R. J. (2011). Model-based influences on humans' choices and striatal prediction errors. Neuron, 69(6), 1204-1215.
Gillan, C. M., Kosinski, M., Whelan, R., Phelps, E. A., & Daw, N. D. (2016). Characterizing a psychiatric symptom dimension related to deficits in goal-directed control. Elife, 5, e11305.
Voon, V., Derbyshire, K., Rück, C., Irvine, M. A., Worbe, Y., Enander, J., Schreiber, L. R. N., Gillan, C., Fineberg, N. A., Shakian, B. J., Robbins, T. W., Harrison, N. A., Wood, J., Daw, N. D., Dayan, P., Grant, J. E., & Bullmore, E. T. (2015). Disorders of compulsivity: a common bias towards learning habits. Molecular Psychiatry, 20(3), 345-352.
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