Zu klein und wenig robust: Kann Hirnforschung wirklich nur mit mehreren Tausend Teilnehmenden gelingen?
Eine neue Studie in der renommierten Fachzeitschrift ‘Nature’ hat für Medienrummel gesorgt. „Hirnstudien: Nur aussagekräftig mit vielen Teilnehmern“, „Can brain scans reveal behaviour? Bombshell study says not yet“ und „Brain-Imaging Studies Hampered by Small Data Sets, Study Finds“ lauteten einige der Schlagzeilen. Auch wissenschaftliche Forschungsgruppen sind beunruhigt! Ist die Kritik berechtigt?
Die Studie von Scott Marek und Kolleg:innen untersuchte mehrere Tausend Hirnbilder. Aus diesen Hirnbildern berechneten sie zum einen die Dicke des Kortex und zum anderen die Verbindungen zwischen Hirnarealen im wachen Ruhezustand (sog. funktionale Konnektivität). Diese Maße wurden dann mit 41 verschiedenen psychologischen und demographischen Befunden in Bezug gesetzt, z.B. Intelligenz, Schlaf oder Einkommen.
Das Forschungsteam konnte zeigen, dass der Zusammenhang zwischen den Hirndaten und den psychologischen Befunden sehr klein ist. Danach wurde die gleiche Datenanalyse wiederholt, aber die Forschenden schauten sich diesmal nur einen reduzierten Teil der Daten an. Dadurch konnten sie simulieren, was passiert, wenn man eine eher übliche Menge an Versuchspersonen (< 500) statt mehrerer Tausend untersucht. Es zeigte sich, dass diese kleinen Studien den Zusammenhang zwischen Hirndaten und psychologischen Daten überschätzten. Außerdem stellte sich heraus, dass die Effekte aus den kleinen Studien nicht wiederholt nachweisbar waren. Das heißt, wenn zwei unterschiedlich kleine Stichproben für den gleichen Zusammenhang angeschaut wurden, waren die Ergebnisse oft unterschiedlich.
Diese Studie zeigt eindrücklich, dass der Zusammenhang zwischen Hirndaten wie den hier erhobenen und psychologischen Befunden wie den hier analysierten klein ist und daher für solche Studien große Mengen an Versuchspersonen benötigt werden. Aber gilt das für alle Hirnstudien? Wahrscheinlich nicht. Bereits in ihrem Artikel besprechen Scott Marek und Kolleg:innen, für welche Arten von Studien ihre Befunde wahrscheinlich nicht gelten: Dort, wo Wissenschaftler:innen eine sogenannte unabhängige Variable manipulieren können, sind die Effekte dieser Manipulation auf die abhängige Variable in der Regel um einiges größer als die bloße Beobachtung natürlicher Fluktuationen zwischen Versuchspersonen.
Bildgebungsexperimente versuchen, die Funktion des Gehirns durch die Manipulation von Hirnprozessen zu ergründen und können also dadurch mit größeren Effekten rechnen. Beispielsweise legt ein Forschungsteam eine Versuchsperson in einen Hirnscanner und zeigt ihr Bilder von ‘langweiligen’ Gegenständen wie einem Toaster und dazwischen Bilder von angstauslösenden Gegenständen wie Waffen oder Spritzen. Wenn die Daten aufgezeichnet sind, können die Forschenden vergleichen, wie das Gehirn auf die langweiligen Gegenstände - verglichen mit den angstauslösenden Gegenständen - reagiert. Wenn ein bestimmter Hirnbereich stärker auf die angstauslösenden Bilder reagiert, schließen die Forschenden daraus, dass er an der Angstverarbeitung beteiligt ist. Ein solcher Hirnbereich ist die Amygdala, die in vielen Bildgebungsexperimenten, die dem aus dem Beispiel ähneln, gefunden wurde. Andere Studien an Patient:innen, die eine beschädigte Amygdala haben, haben ihre Funktion bestätigt.
Bedeutet das, in diesem Bereich ist alles in Ordnung? Nein, bereits vor Jahren warnten Forscher um die renommierten Bildgebungsexperten Tom Nichols und Russ Poldrack, dass auch die meisten Bildgebungsexperimente mit zu wenigen Versuchspersonen arbeiten. Daran ändert die neue Studie nichts. Tom Nichols meldete sich auch zur neuen Studie per Twitter zu Wort.
Abschließend lässt sich wohl zusammenfassen, dass diese neue Studie eine wichtige Hürde aufzeigt, die bei der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Hirn und Verhalten beachtet und überwunden zu werden gilt. Man kann allerdings getrost die übertriebenen Schlagzeilen ignorieren, dass Bildgebung generell nicht funktioniere, um Hirnfunktionen zu ergründen.
Quellen:
Bernard, E. (2022, March 16). Hirnstudien: Nur aussagekräftig mit vielen Teilnehmern. Wissenschaft. https://www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/hirnstudien-nur-aussagekr...
Marek, S., Tervo-Clemmens, B., Calabro, F. J., Montez, D. F., Kay, B. P., Hatoum, A. S., ... & Dosenbach, N. U. (2022). Reproducible brain-wide association studies require thousands of individuals. Nature, 1-7.
Poldrack, R. A., Baker, C. I., Durnez, J., Gorgolewski, K. J., Matthews, P. M., Munafò, M. R., ... & Yarkoni, T. (2017). Scanning the horizon: towards transparent and reproducible neuroimaging research. Nature Reviews Neuroscience, 18(2), 115-126.
Richtel, M. (2022, March 16). Brain-imaging studies hampered by small data sets, study finds. New York Times. https://www.nytimes.com/2022/03/16/science/brain-imaging-research.html
Callaway, E. (2022, March 17). Can brain scans reveal behaviour? Bombshell study says not yet. Nature. https://www.nature.com/articles/d41586-022-00767-3
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