„Bei meiner Nachbarin hat es geholfen!“ Wenn Anekdoten bei medizinischen Entscheidungen schwerer wiegen als Fakten

Die Erfahrung einer guten Freundin oder der Bericht eines Users im Online-Forum zu der bevorstehenden medizinischen Behandlung können Entscheidungen gefühlt vereinfachen. Forschung zeigt, dass solche anekdotischen Informationen gerade im Gesundheitskontext einen großen Einfluss haben, obwohl es oft problematisch sein kann, sich auf diese zu verlassen. Entscheidungshilfen können Patienten und Patientinnen mithilfe verschiedener Methoden unterstützen, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen.

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Entscheidungen über medizinische Behandlungen zu treffen, kann schwierig und überfordernd sein, vor allem, wenn sie nahestehende Personen betrifft oder man selbst eine unerwartete Diagnose erhalten hat. Hinzu kommt, dass man mit verschiedensten Formen von Informationen konfrontiert wird. Dabei handelt es sich häufig nicht nur um Ratschläge von Ärztinnen und Ärzten oder Informationsmaterial über den Stand der medizinischen Forschung. Auch Medienberichte, persönliche Anekdoten von Freund*innen, Verwandten und Bekannten sowie alles, was die Google-Suche zu der entsprechenden Behandlung oder Erkrankung ausspuckt, können die Überlegungen beeinflussen. Wie können Betroffene unter diesen Bedingungen angemessene medizinische Entscheidungen treffen? Und welche Informationen fließen in diese Entscheidungen ein?

Unterscheidet man zwischen verschiedenen Arten und Quellen der Informationen, beschreiben statistische Informationen empirisch quantifizierbare Daten über Objekte, Personen, Konzepte oder Phänomene, die auf Forschungsergebnissen oder Umfragen basieren. Anekdotische Informationen hingegen umfassen persönliche Erzählungen, Einzelfallschilderungen oder Aussagen von Zeug*innen. Obwohl statistische Daten informativer sein sollten, gibt es Fälle, in denen sich anekdotische Informationen als überzeugender erweisen. 

In einer Meta-Analyse wurden die Ergebnisse von 61 Studien zusammengefasst, die den Einfluss von statistischen und anekdotischen Informationen auf Entscheidungen in verschiedenen Bereichen untersuchen (Freling et al., 2020). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Personen im Allgemeinen mehr auf statistische Informationen als auf Anekdoten verlassen. Handelt es sich jedoch um Situationen, in denen die emotionale Betroffenheit hoch ist, d.h. insbesondere dann, wenn die Entscheidung mit der Gesundheit zusammenhängt, persönlich relevant ist oder schwerwiegende Folgen hat, gewichten Personen anekdotische Informationen stärker als statistische - eine Verzerrung, die man auch als anecdotal bias bezeichnet.

Erklärungen dafür sind, dass persönliche Geschichten anschaulicher, konkreter und leichter verständlich sind als Statistiken. Sie sind emotional interessanter, involvierender und ermöglichen es, ein Ereignis stellvertretend zu erleben (Freling et al., 2020). Die Anschaulichkeit einer Anekdote kann dazu führen, dass ihr Inhalt während des Entscheidungsprozesses leichter verfügbar ist, was zu suboptimalen Entscheidungen führen kann. Vor allem im medizinischen Kontext kann diese Heuristik schädliche Konsequenzen haben. In einer Studie von Freymuth und Ronan (2004) entschieden sich Versuchspersonen eher für eine Behandlung einer fiktiven Krankheit, wenn Ihnen eine positive persönliche Anekdote präsentiert wurde. Die Wahl der Behandlung war weniger wahrscheinlich, wenn der anekdotische Bericht negativ war. Die statistische Information zur tatsächlichen Wirksamkeit der Behandlung, die zwischen 30% und 90% liegen konnte, spielte bei der Entscheidung eine untergeordnete Rolle. Die Basisrate der Wirksamkeit wurde nur dann stärker beachtet, wenn der Erfahrungsbericht nicht eindeutig war, d.h. weder vollständig positiv noch negativ.

Ein Ansatz, um statistische Informationen im medizinischen Kontext verständlicher zu vermitteln, ist die visuelle Darstellung von Gesundheitsrisiken. Ein Beispiel für solche Darstellungen sind sogenannte Icon Arrays. Dabei handelt es sich um eine Matrix von häufig 100 oder 1000 Symbolen, die eine potenziell gefährdete Population darstellen. Beispielhaft betrachten wir 100 Patient*innen, die ein bestimmtes Medikament einnehmen (Abbildung 1).

Abbildung 1Abbildung 1

Icon Arrays kombinieren Empfehlungen für die Darstellung von Risikoinformationen, indem sie Zahlen visualisieren und den Bezug zur Grundgesamtheit verdeutlichen. In der Matrix stellen einige Icons, die durch eine andere Farbe hervorgehoben sind, die Anzahl der Personen dar, die in einem bestimmten Zeitraum von einer Krankheit oder einem Ereignis betroffen sind, in diesem Beispiel von einer Nebenwirkung des Medikaments. Die anderen Symbole repräsentieren die nicht betroffenen Personen, d.h. solche, die nicht unter Nebenwirkungen des Medikaments leiden. Aufgrund dieses Designs können Icon Arrays den Einfluss von Heuristiken und Verzerrungen auf die Wahrnehmung und Entscheidungsfindung reduzieren. So auch die Wirkung von persönlichen Anekdoten, da der Erfahrungsbericht (ob positiv oder negativ) besser ins Verhältnis zur gesamten Gruppe der potentiell Betroffenen gesetzt werden kann (Fagerlin et al., 2005).

Persönliche Erfahrungsberichte können auch andere, wünschenswerte Effekte wie die Vermittlung von Hoffnung, ein näheres Verständnis der Krankheit oder das Gefühl, als betroffene Person nicht alleine zu sein, fördern. Sie werden daher häufig als Ergänzung zu statistischen Informationen in Entscheidungshilfen für Patient*innen eingesetzt, die evidenzbasierte Behandlungsentscheidungen unterstützen sollen. Eine Übersichtsarbeit kam jedoch zu dem Schluss, dass noch nicht ausreichend geklärt ist, ob und wie das Hinzufügen von Anekdoten die Wirksamkeit der Entscheidungshilfen für Patient*innen erhöht (Bekker et al., 2013). Weitere Forschung zu diesem Thema bleibt also notwendig und wird zeigen, ob die Kombination von Erfahrungsberichten mit anderen Methoden der Risikovermittlung, wie z. B. der visuellen Darstellung mittels Icon Arrays, erfolgversprechend ist.

Dieser Beitrag ist im Rahmen des EHPS UN Grants für Wissenschaftskommunikation entstanden. Der Beitrag wird in eine interaktive Mottowoche auf dem In-Mind Instagram Account eingebettet.

Literaturverzeichnis

Bekker, H. L., Winterbottom, A. E., Butow, P., Dillard, A. J., Feldman-Stewart, D., Fowler, F. J., Jibaja-Weiss, M. L., Shaffer, V. A., & Volk, R. J. (2013). Do personal stories make patient decision aids more effective? A critical review of theory and evidence. BMC Medical Informatics and Decision Making, 13(S2), S9. https://doi.org/10.1186/1472-6947-13-S2-S9

Fagerlin, A., Wang, C., & Ubel, P. (2005). Reducing the influence of anecdotal reasoning on people’s health care decisions: Is a picture worth a thousand statistics? Medical Decision Making, 25(4), 398–405. https://doi.org/10.1177/0272989X05278931

Freling, T. H., Yang, Z., Saini, R., Itani, O. S., & Rashad Abualsamh, R. (2020). When poignant stories outweigh cold hard facts: A meta-analysis of the anecdotal bias. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 160, 51–67. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2020.01.006

Freymuth, A. K., & Ronan, G. F. (2004). Modeling patient decision-making: the role of base-rate and anecdotal information. Journal of Clinical Psychology in Medical Settings, 11, 211-216.

Bildquellen

Bild 1: Canva

Abbildung 1: erstellt über https://iconarray.com/