Wenn Gedanken mehr wert sind als Gold: Der Zusammenhang zwischen Kognition und Leistung Bei Olympischen Spitzensportler:innen

Herausragende körperliche Leistung ist bei olympischen Spitzensportler:innen mit bloßem Auge erkennbar. Die weniger sichtbaren, kognitiven Prozesse tragen ebenfalls zu einer erfolgreichen Leistung bei, sind jedoch noch weniger erforscht und ihre Wirkmechanismen unklar. Mit diesem Artikel möchten wir Einblicke in die aktuelle Forschung zum Zusammenhang zwischen Kognition und Leistung im Sport geben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Spitzensportler:innen, die sich auf die olympischen Spiele vorbereiten und wissenschaftlich begleitet werden. Wir werden in diesem Beitrag veranschaulichen, welche Herausforderungen mit der Durchführung kognitiver Tests im Bereich des Wettkampfsports verbunden sind und wie man diesen begegnen kann. Das schließt die Debatte über die Entwicklung und den Einsatz sportspezifischer Messinstrumente gegenüber allgemeinen kognitiven Leistungstests ein. Ziel ist es letztlich, mit den erhobenen Daten die Voraussetzungen für die Entwicklung und den Einsatz individuell zugeschnittener kognitiver Interventionen bereit zu stellen.

Für Spitzensportler:innen, die nach Höchstleistung auf der größten Sport-Bühne der Welt streben, ist ein hohes Maß an individueller Vorbereitung entscheidend, da sich bereits kleinste Veränderungen stark auf die Leistungsergebnisse auswirken können (Zentgraf & Raab, 2023). Eine Vorbereitung, die ausschließlich auf körperlichem Training beruht, wäre allerdings zu einseitig gedacht. Stattdessen sollten in die Trainingsplanung und Wettkampfvorbereitung auch Ernährung, genetische Prädispositionen, Blutgesundheit, motorische Fähigkeiten, psychosoziale Faktoren und kognitive Prozesse einbezogen werden. Aktuelle Forschungsansätze legen daher besonderen Wert auf interdisziplinäre Zusammenarbeit, die sich auf die individualisierte Entwicklung von Athlet:innen in solch unterschiedlichen Bereichen konzentriert und mögliche Interaktionen zwischen den Bereichen untersucht. 

Die Relevanz kognitiver Prozesse für sportliche Leistung wird häufig unterschätzt, da kognitive Prozesse im Vergleich zur körperlichen Leistung weniger offensichtlich sind. Dennoch sind sie von entscheidender Bedeutung und erhalten deshalb in diesem Artikel besondere Aufmerksamkeit (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Multidisziplinäre Entwicklung von Sportler:innen mit Fokus auf kognitive FunktionenAbbildung 1: Multidisziplinäre Entwicklung von Sportler:innen mit Fokus auf kognitive Funktionen

Die kognitiven Anforderungen im Leistungssport sind vielfältig und umfassen unter anderem Konzentrationsfähigkeit, Multitasking, Entscheidungsfindung oder Arbeitsgedächtnisleistung (Kalén et al., 2021). Die kognitionspsychologische Forschung im Sport unterscheidet in der Theorie zwischen kognitiven Fertigkeiten (d.h. der effektiven Nutzung von fachspezifischem Wissen bei der Ausführung) und kognitiven Funktionen (d.h. allgemeinen, kognitiven Mechanismen, die für zielgerichtetes Handeln relevant sind). Kognitive Funktionen wiederum werden in grundlegende kognitive Funktionen, höhere kognitive Funktionen und kognitive Entscheidungsfähigkeiten unterteilt (Kalén et al., 2021; siehe auch Abbildung 2).

Besonders in Mannschaftssportarten und solchen Sportarten, die von hoher Dynamik und Zeitdruck geprägt sind, spielen kognitive Prozesse nachweislich eine zentrale Rolle bei der Entwicklung außergewöhnlicher sportlicher Expertise (Kalén et al., 2021). Im Folgenden soll Basketball deshalb als Beispiel dienen, um den Zusammenhang zwischen Kognition und sportlicher Expertise zu illustrieren. Basketballer:innen müssen ständig sekundenschnelle Entscheidungen treffen und gleichzeitig komplexe körperliche Bewegungen ausführen. Während eines Spiels ermöglichen wichtige grundlegende kognitive Funktionen den Spieler:innen beispielsweise ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, wo sich Mitspieler:innen befinden, oder eingehende Informationen, wie die Rufe des Trainers, zu verarbeiten. Höhere kognitive Funktionen befähigen Athlet:innen Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis abzurufen und zu aktualisieren, wie etwa bewährte Handlungsmuster, aber auch irrelevante Handlungsimpulse zu unterdrücken sowie zwischen Aufgaben zu wechseln sobald sich Situation und Anforderungen verändern. Darüber hinaus benötigen die Spieler:innen sportspezifische kognitive Fertigkeiten, um z. B. das Verhalten des Gegners zu antizipieren oder unter Druck Handlungsoptionen für ihre nächsten möglichen Aktionen zu entwickeln und entsprechende Entscheidungen zu treffen (siehe Abbildung 2).

Genug Gründe, um den kognitiven Funktionen und Fertigkeiten von Sportler:innen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wir möchten daher im Folgenden einen Einblick in die kognitive Diagnostik innerhalb eines Trainingstages der Olympia-Nationalspielerin Sofia geben. Sofia steht beispielhaft für Athlet:innen, die Teil des interdisziplinären Forschungsprojekts “in_prove” sind, welches darauf abzielt, sportliche Leistung durch individualisierte Diagnostik und Interventionen zu optimieren.

Vorbereitung auf Olympia – im Kopf?

7:00 Uhr. Sofia genießt ihr Frühstück bevor sie sich auf den Weg in die Sporthalle macht. 

7:15 Uhr. Erste Basketball Trainingseinheit. Gleich nach dem Aufwärmen, stellt sich Sofia der ersten kognitiv-herausfordernden Aufgabe. Sie steht mit dem Ball dribbelnd in der Mitte eines Quadrates, das mithilfe von nummerierten, unterschiedlich-farbigen Pylonen aufgebaut ist. Sobald der Coach eine Zahl ausruft, muss sie die jeweilige nummerierte Pylone kurz mit ihrer freien Hand berühren und so schnell wie möglich auf ihre ursprüngliche Position zurückkehren. Nach ein paar Minuten wechselt der Aufgabenfokus auf eine ausgerufene Farbe, um wiederum nach einigen Minuten auf Zahlen zurück zu wechseln. In einer Steigerungsform der Aufgabe, muss sie anschließend die Pylonen mit ihrer linken Hand berühren sobald eine Zahl, und mit ihrer rechten Hand berühren sobald eine Farbe ausgerufen wird. Diese Übung verdeutlicht, dass eine Vielzahl kognitiver Funktionen, die mithilfe der kognitiven Diagnostik während eines Projekt-Messtages erfasst werden, relevant sind: Sie muss ihre Aufmerksamkeit auf die Pylonen ausrichten und so schnell wie möglich verarbeiten, was der Coach ihr zugerufen hat; sie muss sich die Position der Pylonen merken (Arbeitsgedächtnisfähigkeit), ihr Verhalten flexibel auf den jeweils neuen Aufgabenfokus anpassen und dabei potenziell falsche Antworten unterdrücken (also vermeiden, die falsche Hand zu benutzen).

8:00 Uhr.;Einführung in das Forschungsprojekt “in:prove “. Nachdem die Studienleiter:innen die Athlet:innen begrüßt haben, bearbeiten sie zunächst einen Test, der ihre kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit misst. In diesem Test verbinden die Athlet:innen unter Zeitdruck so schnell wie möglich Zahlen von 1-100, wobei sie für jeden der vier Durchgänge jeweils 30 Sekunden Zeit haben. Nach Abschluss des Tests werden die Athlet:innen auf die unterschiedlichen Messstationen verteilt, bei denen ihre motorische Leistungsfähigkeit gemessen, ihre Zyklussymptomatik mithilfe von Interviews erfasst, psychosoziale Faktoren mithilfe von Fragebögen erhoben und ihnen Blut abgenommen wird.

9:15 Uhr. Kognitive Diagnostik. Sofia absolviert drei Computertests, die jeweils grundlegende kognitive Funktionen wie die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und visuelle Aufmerksamkeit, sowie höhere kognitive Funktionen wie ihre Arbeitsgedächtnis- und Aufgabenwechselfähigkeit messen (siehe Abbildung 2). Die Tests erfordern von ihr, aus einer Reihe von markierten Buchstaben bestimmte Zielzeichen anzustreichen, sich durch Puzzle mit verschiedenen Kacheln zu navigieren, sich aufblinkende Quadrate zu merken und in umgekehrter Reihenfolge widerzugeben und Zahlen-Buchstaben-Kombinationen anhand diverser Klassifizierungsregeln (z. B. Vokal vs. Konsonant) so schnell wie möglich zu unterscheiden. Darüber hinaus wird Sofias Entscheidungsfähigkeit mithilfe eines Optionsgenerierungsparadigmas evaluiert. In diesem Paradigma werden ihr Videoszenen olympischer Basketballspiele gezeigt, die in wichtigen Entscheidungsmomenten angehalten werden. Sobald die Szene stoppt, muss Sofia Optionen zu möglichen nächsten Spielzügen generieren und dazu angeben, welche von diesen Optionen sie letztlich selbst gespielt hätte.

Abbildung 2: Darstellung der kognitiven Funktionen und der Art und Weise, wie sie im Forschungsprojekt gemessen werden.Abbildung 2: Darstellung der kognitiven Funktionen und der Art und Weise, wie sie im Forschungsprojekt gemessen werden.

9:45 – 11:15 Uhr. Zweite Trainingseinheit.

11:15 Uhr. Mittagessen.

12:00 – 13:15 Uhr. Sofia absolviert vier weitere Messstationen.

15:00 Uhr. Erstes Testspiel während des Trainingscamps. Nach einem langen Diagnostiktag, der von Sofia viel Konzentration abverlangt hat, ist sie dennoch in der Lage ihre kognitiven Fähigkeiten auf dem Feld zu demonstrieren und dieselbe Spielfähigkeit abzurufen, die sie auch ausgeschlafen nach einer Ruhephase gezeigt hätte.

5 Tage später. Mithilfe eines Ampelsystems, werden die Ergebnisse aller interdisziplinären Messungen in Form eines individuellen Avatars zurückgemeldet. Diese Art der Visualisierung ermöglicht es den Wissenschaftler:innen gemeinsam mit Athlet:innen und Coaches zu erörtern, wo Messergebnisse oberhalb der Referenznorm (grün) oder im Durchschnitt (gelb) liegen, oder aber auf Verbesserungsbedarf (rot) und damit potenzielle Interventionserfordernisse hindeuten.

Der Ablauf eines solchen Messtages verdeutlicht, dass die Vorbereitung auf Olympia weit über Basketball-Trainingseinheiten hinausgeht und sowohl interdisziplinäre Diagnostik als auch Interventionen umfasst, die keinen unmittelbaren Zusammenhang zur Sportart Basketball haben müssen. Als Forschende möchten wir ab hier den Blick hinter die Kulissen ermöglichen und Einblicke in die Erfordernisse geben, die mit der sorgfältigen Entwicklung von Diagnostik und individuellen Interventionen verbunden sind.

Hinter der Kulissen I: Kognitive Diagnostik in der Feldforschung 

Auswahl und Entwicklung kognitiver Aufgaben. Vor Beginn eines Forschungsprojekts, tauschen sich Forschende, Coaches und die Forschungskoordinator:innen über die Interessen der Sportverbände, unter Berücksichtigung der kognitiven Anforderungsprofile der jeweiligen Sportdisziplin, aus.

In der Sportpsychologie wird der Kognitive Fertigkeitskomponentenansatz („cognitive components skill approach“; Voss et al., 2010) vom Expertenleistungsansatz („expert performance approach“; Ericsson, 2003) unterschieden. Gemäß dem ersten Ansatz, führt langfristige körperliche Betätigung in Verbindung mit einer kontinuierlichen Steigerung der mentalen Anforderungen in Richtung Eliteniveau, zu einer bereichsübergreifenden positiven Veränderung der kognitiven Funktionen. Demgegenüber argumentiert der Expertenleistungsansatz, dass Spitzenathlet:innen den Anfängern vor allem in sportspezifischen kognitiven Aufgaben überlegen sind. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ansätzen ist die Konzeptualisierung der kognitiven Leistungstests. Während der Kognitive Fertigkeitskomponentenansatz zumeist grundlegende kognitive Aufgaben einsetzt, nutzt der Expertenleistungsansatz sportspezifische kognitive Aufgaben (Kalén et al., 2021). Grundlegende kognitive Aufgaben meint, dass die Stimuli (z. B. Symbole, Zahlen, geometrische Figuren) und die Antworten in den Leistungstests universell konzipiert sind und keine spezifischen Vorkenntnisse oder Erfahrungen auf Seiten der Untersuchungsteilnehmenden nötig machen. In der sogenannten „Flanker“-Aufgabe sind die Stimuli z. B. Pfeile, die nach links zeigen und von Pfeilen umgeben sind, die nach rechts zeigen (und umgekehrt; vgl. Abb. 2). Die Richtung des mittleren Pfeils muss möglichst schnell erkannt und durch Bedienen eines Antwortknopfes angezeigt werden. Die computerbasierte „Corsi”-Arbeitsgedächtnisaufgabe nutzt als Stimuli Vierecke, die nacheinander auf dem Bildschirm in unterschiedlichen Positionen aufleuchten. Die Versuchsteilnehmer:innen sind gebeten, sich die Reihenfolge des Aufleuchtens zu merken und die Vierecke entweder in der Reihenfolge ihres Erscheinens oder in umgekehrter Reihenfolge anzuklicken (für einen Überblick siehe Diamond, 2013).

Die Bearbeitung sportspezifischer Aufgaben erfordert sportartspezifisches Wissen und entsprechende Erfahrungen, da die verwendeten Stimuli (z. B. Bilder oder Videos), die Aufgabencharakteristika (z. B. Instruktion, Größe, Position der Versuchsperson) und zuweilen auch die Antwortmöglichkeiten (z. B. Pass, Körperbewegung) sportartspezifisch sind. So werden in der fußballspezifischen Flanker-Aufgabe bspw. 5 Spieler dargeboten, von denen der mittlere Spieler der Zielspieler ist und die anderen Spieler als potentielle Ablenkungsreize fungieren (Musculus et al., 2022). Die Versuchsperson, selbst Spieler:in, steht mit einem Ball am Fuß vor einer Leinwand und muss den Ball in die Richtung spielen, in die der Zielspieler schaut. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass selbst wenn relevante kognitive Fertigkeiten identifiziert und in wissenschaftliche Konstrukte übersetzt wurden, die Operationalisierung durch die Fülle der Möglichkeiten sehr anspruchsvoll ist (Furley et al., 2023).

Standardisierte allgemeine kognitive Leistungstests sind gegenüber sportspezifischen Verfahren weiter verbreitet und oft auch frei zugänglich (psytoolkit or OpenSesame). Sportartspezifische Verfahren erfordern hingegen eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler:innen und Expert:innen einer Sportart um relevante und aussagekräftige Stimuli zu identifizieren, die zudem zeitaufwändig validiert werden müssen. Derzeit ist keine freie Testbatterie für sportartspezifische kognitive Leistungstests verfügbar. Sicherlich wäre deren Entwicklung aber eine lohnende Aufgabe sowohl für die Forschung als auch für die Anwendung in der Praxis des Leistungssports.

Herausforderungen beim Einsatz kognitiver Leistungstests im Leistungssport. Die Durchführung kognitiver Leistungstests in der Sportpraxis (z. B während Trainingslagern und sonstigen Trainingsmaßnahmen) ermöglicht einen Einblick in wettkampfnahe Settings. Sie stellen die Forschenden jedoch vor Herausforderungen in Hinblick auf die Validität und Reliabilität der Messungen.

Hauptgütekriterien (Reliabilität, Validität, Objektivität): Kognitive Leistungstests müssen über mehrere Messzeitpunkte hinweg verlässlich sein, ungeachtet verschiedener Zeitpunkte im Verlauf eines Trainingstages und damit einhergehenden unterschiedlichen Belastungen. Außerdem müssen sie zu sportartspezifischen kognitiven Anforderungen und Trainingszielen/-inhalten passen. Validität verlangt auch die Berücksichtigung von möglichen physischen oder mentalen Ermüdungseffekten (Borsboom & Mellenbergh, 2007), damit die Tests eine zuverlässige Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten unter realistischen Bedingungen ermöglichen. Objektivität ist unerlässlich für die Fairness von Tests und die Konsistenz über unterschiedliche Stichproben hinweg. Sie wird gewährleistet durch standardisierte Abläufe und kontrollierte Testbedingungen. 

Standardisierung und Fairness: Bei Testungen in Sporthallen oder Besprechungsräumen kann es zu ungünstigen Bedingungen durch Lärm, wechselnde Licht- und Temperaturverhältnisse oder unvorhergesehene Unterbrechungen oder Verschiebungen im zeitlichen Ablauf kommen. Forschende müssen daher Möglichkeiten finden, die Bedingungen so standardisiert wie möglich zu gestalten, z. B. durch die Nutzung von lärmreduzierenden Kopfhören.

Zumutbarkeit: Kognitive Leistungstests müssen in Hinblick auf die erforderliche Konzentration und Dauer des Verfahrens angemessen und zumutbar sein.

Ökonomie: Zeitliche und materielle Ressourcen müssen effizient sein ohne zu einem Qualitätsverlust zu führen (Moosbrugger & Kelava, 2012). Das gilt im vorliegenden Fall besonders für die vorolympische Trainingsvorbereitung, in der Zeit ein rares Gut ist. Der Einsatz kognitiv-beanspruchender Verfahren muss unter diesen Bedingungen gut abgewogen werden.

Normierung: Da die Sportler:innen zumeist in einem überdurchschnittlichen Fitnesszustand sind, ist der Vergleich mit durchschnittlichen Alters- oder Geschlechternormen unter Umständen ungenau, da unklar ist, ob die kognitive Leistung auch auf den Fitnesszustand zurück zu führen bzw. von diesem beeinflusst sind. Um die kognitiven Fähigkeiten von Sportlern genau zu bewerten, müssen Normen an die Basisdaten von Sportler:innen angepasst werden (Adjetey et al., 2023).

Datensicherheit: Die Sicherheit der erhobenen sensiblen Personendaten muss unbedingt gewährleistet sein. Neben entsprechenden technischen Maßnahmen des Datenschutzes muss das Einverständnis der Sportler:innen darüber eingeholt werden, mit wem (z. B. Trainer:in, Mannschaftsärztin oder -arzt) welche Daten unter welchen Bedingungen geteilt werden dürfen.

Hinter den Kulissen II: Entwicklung und Evaluation kognitiver Interventionen

Kognitive Diagnostik und individuelles Feedback ermöglichen die Kennzeichnung von Entwicklungspotenzialen. Das Ziel des vorgestellten Projektes ist die Entwicklung individueller Trainingsmaßnahmen auf Basis der Ergebnisse der kognitiven Leistungstests und unter Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen der jeweiligen Sportart. Für eine:n Basketballspieler:in ist das Training der kognitiven Flexibilität aufgrund der komplexen und dynamischen Spielsituationen beispielsweise bedeutender als für eine Turnerin, die vergleichsweise standardisierte Bedingungen für die Ausführung ihrer Pflichtübungen vorfindet. Generell existieren aber nur wenige standardisierte Interventionen für sportartspezifische kognitive Fertigkeiten. Ein möglicher Ansatz kognitiven Trainings beinhaltet tägliche oder wöchentliche Wiederholungen allgemeiner kognitiver Aufgaben über einen längeren Zeitraum (z. B. Multi-Objekt-Trackingaufgabe), um zu überprüfen, ob das zu einer Verbesserung der sportlichen Leistung führt. Solche Transfereffekte beziehen sich auf Fertigkeiten, die mit der Intervention nicht direkt trainiert werden, jedoch für ähnliche Aufgaben relevant sein können (naher Transfer) oder in sportspielähnlichen Situationen (weiter Transfer) auftreten (Fleddermann, Heppe & Zentgraf, 2019). Zur Existenz und Wirksamkeit der Transfereffekte gibt es jedoch widersprüchliche Ergebnisse, was die Notwendigkeit der Entwicklung sportartspezifischer Tests und Interventionen unterstreicht. Wir favorisieren eine alternative Strategie, die nicht allgemeine kognitive Aufgaben nutzt, sondern die kognitiven Fertigkeiten im Rahmen des Trainings systematisch mittels steigender Anforderungen trainiert. Beispielsweise, indem die Anzahl der erforderlichen Entscheidungen im Training erhöht wird, Doppelaufgaben implementiert werden oder herausfordernde Trainingsgeräte wie Ballmaschinen eingesetzt werden. Auch der Einsatz von großen Projektionsflächen oder virtueller und erweiterter Realität sind denkbare Werkzeuge. Wir ziehen diese Art der Intervention vor, da das sportartspezifische kognitive Training unserer Meinung nach zu einem anforderungs- und wettkampfnäheren Training führt, von dem die Sportler:innen besonders in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele profitieren.

Unabhängig von den Interventionsformen, liegt eine Herausforderung der Forschung im Spitzensport in der notwendigen Unterstützung und Akzeptanz der Maßnahmen durch Trainer:innen und Athlet:innen. Eine Akzeptanz wird wahrscheinlicher, wenn persönliche Bedürfnisse berücksichtigt werden und individuelle Konzepte erarbeitet werden, die auch die zeitlichen Ressourcen aller Beteiligten im Blick haben. Darüber hinaus sollte über den Nutzen von allgemeinen und sportartspezifischen Verfahren informiert werden und Kosten-Nutzen-Überlegungen angestellt werden. Digitale kognitive Interventionen können eine kostengünstige und flexible Option darstellen, zeigen jedoch eine eher niedrige Selbstverpflichtung. Sportpsycholog:innen könnten auch ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielen, indem sie sich auf einzelne kognitive Funktionen konzentrieren, die für die jeweilige Sportart relevant sind, und auf aufwändige Mehrzweck-Testbatterien verzichten.

Abschließend ist darüber aufzuklären, dass die Evaluation individualisierter Interventionen vor allem im Spitzensport herausfordernd ist. Was eine formative Evaluation anbelangt, so empfehlen sich begleitende Dokumentationen im Rahmen von Fallstudien (Andersen et al., 2002; Keegan et al., 2017). Die Zusammenarbeit von Kompetenzteams aus Trainer:innen, Sportwissenschaftler:innen und Psycholog:innen erlaubt es, dass spezifische Leistungsparameter identifiziert und im Training systematisch adressiert werden können. Dieser Co-produktive Ansatz (Smith et al., 2022) integriert die verschiedenen Expertisen. Die summative Evaluation bezieht das Feedback der Stakeholder mit ein und verbindet Trainings- und Wettkampfdaten. Auf diese Weise profitieren Sportler:innen und Trainer:innen am besten von sportpsychologischer Forschung und Intervention.

Denken wie ein:e Goldmedaillengewinner:in?

Wie können wir nun Athlet:innen dabei unterstützen, wie potentielle Goldmedaillengewinner:innen zu denken? Interdisziplinäre Forschung betont die individualisierte ganzheitliche Entwicklung der Athlet:innen über unterschiedliche Bereiche hinweg. Metaanalysen zeigen, dass die Berücksichtigung kognitiver Fertigkeiten und Prozesse zentral für die Förderung der Expertise von Sportler:innen und ihre Leistungserbringung im Wettkampf sind. Effektive kognitive Diagnostik und spezifische individualisierte Interventionen, die im Training integriert werden, stellen versprechende Zugänge zu Spitzenleistungen dar. Als Forschende hoffen wir auf intensivierte Forschung und als angewandt arbeitende Sportpsycholog:innen sind wir mehr als bereit, das „Siegerdenken“ zu fördern, um unseren Teil zu einer bestmöglichen Vorbereitung der Athlet:innen auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris zu leisten.

Acknowledgements

GER: Dieses Projekt wurde mit Forschungsmitteln des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert (081901/21–25).

Literaturverzeichnis

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