Warum Bonuskarten nicht bei Null starten sollten
In Marketingkreisen dürfte der „Endowed Progress Effect“ seit Langem bekannt sein: Er beschreibt das Phänomen, dass der wahrgenommene Fortschritt auf dem Weg zu einem Ziel unsere Mühen, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen, beeinflusst.
Anne und Linus sind beide viel mit dem Auto unterwegs. So viel, dass sie unabhängig voneinander feststellen, dass es einmal Zeit für eine professionelle Autowäsche wird. Beide bringen ihre schmutzigen Autos zu einer Waschanlage. Nach der Reinigung erhält Anne eine kostenlose Bonuskarte. „Das ist eine 10er-Bonuskarte“, erklärt die freundliche Dame hinter der Theke. „Für jede weitere Autowäsche bei uns erhalten Sie einen Stempel. Sobald die Karte voll ist, können Sie einmal kostenfrei zu uns kommen. Wir haben heute eine besondere Verkaufsaktion, daher kann ich Ihnen für Ihren heutigen Besuch bei uns schon einmal zwei Stempel geben“. Anne freut sich – so bleiben nur noch acht Besuche der Waschanlage bis zur Gratis-Autowäsche. Auch Linus erhält eine kostenlose Bonuskarte, als er an der Kasse bezahlt. Seine Karte ist jedoch keine 10er-, sondern eine 8er-Bonuskarte, auf der noch keine Stempel eingetragen sind. Auch ihm bleiben acht Besuche der Waschanlage bis zur Gratis-Autowäsche. Gleiche Ausgangsbedingungen für Anne und Linus also, könnte man meinen. Eine(r) von beiden wird allerdings mit größerer Wahrscheinlichkeit wiederkommen und die Stempelkarte füllen. Nur wer?
Eine Antwort auf diese Frage liefert ein Feldexperiment von Joseph C. Nunes und Xavier Drèze, zwei amerikanischen Marketing-Professoren. Sie verteilten 300 Bonuskarten an die KundInnen einer Autowaschanlage – die Hälfte davon begonnene 10er-Karten mit 2 Stempeln wie die von Anne, die andere Hälfte leere 8er-Karten wie die von Linus. Neun Monate später sammelten die Forscher alle vollständig abgestempelten Bonuskarten wieder ein. Dann prüften sie, welcher der beiden Kartentypen häufiger eingelöst wurde. Das Ergebnis: Während 19% der KundInnen mit der 8er-Stempelkarte das Bonusprogramm abschlossen und ihre kostenfreie Autowäsche einlösten, waren es ganze 34% der KundInnen mit der 10er-Stempelkarte – ein statistisch signifikanter Unterschied! Außerdem stellten die beiden Forscher fest, dass die KundInnen mit einer angefangenen 10er-Bonuskarte versuchten, die Karte schneller voll zu bekommen: Sie ließen im Schnitt knapp 3 Tage weniger zwischen den Autowäschen verstreichen. Die KundInnen, die also mit einem künstlichen Fortschritt von 20% – 2 von 10 Autowäschen – gestartet waren, kehrten früher und mit größerer Wahrscheinlichkeit für die verbleibenden acht Autowäschen zurück als jene, die eine leere 8er-Bonuskarte bekommen hatten. Personen, die also bei Beginn einen künstlichen Fortschritt erlebt hatten, verfolgten ihr Ziel mit größerer Ausdauer. Dieses Phänomen bezeichneten Nunes und Drèze als „Endowed Progress Effect“.
Indem eine Aufgabe, die acht Schritte bis zur Zielerreichung erfordert, in eine Aufgabe mit zehn Schritten umgewandelt wird, von denen zwei bereits abgeschlossen wurden, wird die Aufgabe als begonnen, aber unvollständig wahrgenommen. Obwohl die Distanz zum Ziel die gleiche bleibt, bemühen wir uns dank dieser Illusion des Fortschritts mehr, die Aufgabe tatsächlich abzuschließen. Dabei – so vermuten die Forscher – ist es nicht der Wunsch, den bereits erzielten Fortschritt – oder die gesammelten Bonuspunkte – zu verschenken, der uns antreibt: Es ist vielmehr das Gefühl, eine Aufgabe begonnen, aber noch nicht abgeschlossen zu haben. Während wir noch gar nicht begonnene Aufgaben gerne links liegen lassen, nagen offene Aufgaben viel eher an uns. Wahrscheinlich ist also Anne diejenige, die sich dazu entschließen wird, am Bonusprogramm teilzunehmen, um eine Gratis-Autowäsche zu bekommen.
Eine Einschränkung der Feldstudie von Nunes und Drèze ist, dass sie nur jene Bonuskarten in ihre Analyse einbeziehen konnte, die auch vollständig ausgefüllt und in der Waschanlage zurückgegeben wurden. Wie oft die KundInnen zurückkehrten, die während des Studienzeitraums nicht alle acht Stempel sammelten, ist nicht bekannt. Den Endowed-Progress-Effekt konnten Nunes und Drèze allerdings auch in weiteren Studien beobachten. So befragten sie beispielsweise die KundInnen eines Spirituosenhändlers, ob sie an einem Bonusprogramm teilnehmen würden, bei dem am Ende eine kostenlose Falsche Wein winkte. Auch hier zeigte sich, dass KundInnen, denen eine angefangene Bonuskarte angeboten wurde, das Bonusprogramm attraktiver einschätzten und eher dazu bereit waren, daran teilzunehmen. Die Forscher beobachteten außerdem, dass eine Begründung für die angefangene Bonuskarte die Attraktivität des Programms steigerte: Wurde die Bonuskarte beim Spirituosenhändler mit der Begründung angeboten, dass der oder die Einkaufende bereits seit Langem treue(r) KundIn sei, schätzten die Befragten das Bonusprogramm noch attraktiver ein. Selbst eine dürftige Erklärung wie „Wir haben heute einen Aktionstag, daher erhalten sie die ersten Punkte auf ihrer Karte“ ließ das Bonusprogramm in einem besseren Licht erscheinen. Während wir einen künstlichen Fortschritt auf einer Bonuskarte ohne Begründung schnell als Marketing-Trick abstempeln, reicht oft schon ein fadenscheiniger Grund aus, um den Endowed-Progress-Effekt zu verstärken.
Dieser kommt im Übrigen nicht nur im Marketing zum Tragen. Auch Spiele zum Beispiel sind geschickt darin, uns mit begonnenen Aufgaben zum Spielen zu motivieren. Rette ich in einer fantastischen Spielwelt zwei Dorfbewohnende vor den Schergen des Königs, die mir dann erzählen, dass der Rest ihrer Truppe noch eingeschlossen in einem zweiten Versteck auf Rettung wartet, lasse ich mich eher auf die Mission ein – schließlich habe ich zwei Personen schon befreit und mein Ziel fast erreicht. Sehen Sie sich ruhig einmal in Ihrem Alltag um – vielleicht entdecken Sie den ein oder anderen Bereich, in dem der Endowed-Progress-Effekt zum Tragen kommt.
Quellen:
Nunes, J. C. & Drèze, X. (2006). The Endowed Progress Effect: How Artificial Advancement Increases Effort. Journal of Consumer Research, 32, S. 504-512.
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