Dann geh doch zu Mama! Wie Social Distancing den Umgang mit negativen Emotionen erschwert
Existenzängste, die Sorge um die eigene Gesundheit und die Angehörigen, ein ungeregelter beruflicher und familiärer Alltag - vermutlich erleben viele Menschen gerade Angst, Trauer oder Ärger. Um die emotionalen Herausforderungen der aktuellen Pandemie zu meistern, ist effektive Emotionsregulation essentiell. Doch gerade jetzt fehlt vielen Menschen der Kontakt zu Bezugspersonen, die ihnen dabei helfen könnten, mit Unsicherheit und Traurigkeit umzugehen. Ausschlaggebend dafür sind vor allem Kontaktbeschränkungen wie Social Distancing, die die direkte Interaktion erschweren.
Die beste Freundin umarmen, die Eltern im nächsten Bundesland besuchen oder mit einem Kumpel ein Bier in der Lieblingsbar trinken - seit Beginn der Corona- Pandemie geht das für viele Menschen höchstens noch mit schlechtem Gewissen. Trotz der Möglichkeiten, durch Telefon und soziale Netzwerke Kontakt zueinander aufzunehmen, wird die Qualität eines realen Treffens auf verschiedenen Ebenen nicht erreicht. Das merkt man vor allem dann besonders schmerzlich, wenn man negative Emotionen hat, also zum Beispiel verärgert, traurig oder einsam ist.
Wie die Corona-Krise interpersonelle Emotionsregulation beschränkt
Wenn Menschen sich gegenseitig dabei helfen, mit negativen Emotionen zurechtzukommen, sprechen PsychologInnen von interpersoneller Emotionsregulation. Interpersonelle Emotionsregulation hat viele Formen. Hier ein paar Beispiele: Ich bin ängstlich und jemand sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Ich bin frustriert und jemand bespricht mit mir, wie er mit der Situation umgehen würde. Ich bin traurig und jemand tröstet mich, indem er mich in den Arm nimmt. Bei der interpersonellen Emotionsregulation unterscheidet man die intrinsische Komponente von der extrinsischen. Intrinsische interpersonelle Emotionsregulation zeichnet sich dadurch aus, dass eine Person selbst aktiv eine andere Person aufsucht, die ihr dabei hilft, die eigenen Emotionen zu regulieren. Bei extrinsischer interpersoneller Emotionsregulation geht die Initiative von der anderen Person aus (Zaki & Williams, 2013). Beide Formen der interpersonellen Emotionsregulation sind im Moment erheblich erschwert.
Zum einen fällt es vielen Menschen schwer, virtuell mit anderen Personen in Kontakt zu treten oder im Videoanruf ähnlich offen zu sein wie im persönlichen Gespräch. Durch Home-Office, fehlende Kinderbetreuung oder Krankheitsfälle in der eigenen Familie kann sich außerdem die Erreichbarkeit von Kontaktpersonen verändert haben. Vielleicht will man die anderen auch nicht weiter belasten, weil diese ja „sowieso schon so viel um die Ohren haben”. Dies erschwert die intrinsische interpersonelle Emotionsregulation.
Bei der extrinsischen Emotionsregulation ist eine Voraussetzung, dass das Gegenüber mitbekommt, dass man negative Emotionen hat, also zum Beispiel traurig, genervt oder ängstlich ist. Im „normalen” Alltag kann es zum Beispiel die nette Kollegin sein, die man zufällig auf dem Gang trifft, oder der beste Freund, mit dem man sowieso verabredet war, die einem ansehen, dass man negative Emotionen erlebt hat, und fragen: „Alles okay bei dir?" Ohne persönlichen Kontakt ist dies aktuell nicht möglich. Aber nicht nur das spontane Erkennen, dass etwas nicht in Ordnung ist, sondern auch andere Aspekte der extrinsischen Emotionsregulation sind erschwert. Nachdem eine Person eine negative Emotion erkannt hat, wägt sie üblicherweise zwischen verschiedenen Regulationsstrategien ab und entscheidet sich schließlich für eine Strategie (Nozaki & Mikolajczak, 2020). Wenn kein Körperkontakt aufgenommen werden kann, sind auch die Handlungsmöglichkeiten der regulierenden Person eingeschränkt. Dies kann dazu führen, dass bewährte Strategien zur Emotionsregulation wie beispielsweise tröstende Umarmungen nicht ausgeführt werden können und die Person auf andere Strategien umsteigen muss. Die aktuell großen Veränderungen, die mehr oder weniger jeden Menschen betreffen, erschweren es zudem, die Situation der anderen Person einzuschätzen und die richtige Strategie zu wählen.
Wie ein großes Repertoire von Emotionsregulationsstrategien helfen kann
Wenn negative Emotionen nicht durch andere Menschen aufgefangen werden können, ist es viel schwieriger, die Intensität oder Dauer einer negativen Emotion zu verändern. Dies kann zu starker Belastung führen. Darum ist es sinnvoll, sich auf das gesamte Repertoire von Emotionsregulationsstrategien zu besinnen. Dabei kann einem zum Beispiel das helfen, was bisher immer geholfen hat, wenn man traurig, verärgert oder ängstlich war. Zum Beispiel kann das Sport oder Bewegung sein, anders über die Situation nachzudenken, sich mit einem guten Buch oder Musik abzulenken oder die Situation zu akzeptieren, so, wie sie ist. Ein großes Repertoire an Emotionsregulationsstrategien hilft, flexibel mit belastenden Situationen umzugehen (Aldao et al., 2015). In der aktuellen Situation kann es deshalb hilfreich sein, nach neuen Möglichkeiten und Wegen zu suchen, die eigene Stimmung zu verbessern. Natürlich ist dies gerade im Moment der Krise eine Herausforderung. Deshalb veröffentlichen viele PsychologInnenverbände wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie aktuell Hilfestellungen, die Anregungen für den Umgang mit negativen Gefühlen und Gedanken während der Corona- Pandemie geben.
Aktuelle Studie zur Klärung offener Fragen
Aktuell untersucht ein Forschungsteam von PsychologInnen der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität von Amsterdam, wie Menschen während der Corona- Pandemie im Alltag mit negativen Emotionen umgehen. Wenn Sie sich selbst auch für diese Fragen interessieren und die Studie unterstützen möchten, melden Sie sich gerne unter http://lmu-studie.de/.
Quellen:
Aldao, A., Sheppes, G., & Gross, J. J. (2015). Emotion regulation flexibility. Cognitive Therapy and Research, 39(3), 263–278. https://doi.org/10.1007/s10608-014-9662-4
Nozaki, Y., & Mikolajczak, M. (2020). Extrinsic emotion regulation. Emotion, 20(1), 10–15. https://doi.org/10.1037/emo0000636
Zaki, J., & Williams, W. C. (2013). Interpersonal emotion regulation. Emotion, 13(5), 803–810. https://doi.org/10.1037/a0033839
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