Ach ja, diese Lebensfreude! – Was sind komplementäre Stereotype und was haben sie mit Olympia zu tun?
Bei der Berichterstattung über Olympia in Rio ist man sichtlich bemüht nicht auszublenden, vor welchem sozialen Hintergrund die Spiele stattfinden. Brasilien durchlebt derzeit eine tiefgreifende politische, ökonomische und soziale Krise und viele BrasilianerInnen sähen das für Olympia ausgegebene Geld lieber in Bildung und Gesundheit investiert. Zum Standardprogramm von Medienberichten über die derzeitigen Probleme des Landes gehört jedoch auch die Bemerkung, dass die BrasilianerInnen Meister im Umgang mit widrigen Umständen seien und all dies ihrer Lebensfreude keinen Abbruch tue. Derartige Aussagen, so wohlwollend sie gemeint sind, haben eine psychologische und politische Dimension, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigt.
Auch BrasilianerInnen selbst bemühen gerne das Stereotyp eines lebensfrohen Volkes, das nie um eine kreative Lösung verlegen ist, um mit begrenzten Mitteln aus einer problematischen Lage das Beste zu machen (man spricht vom typisch brasilianischen Jeitinho). Aus psychologischer Sicht haben wir es dabei mit einem guten Beispiel für ein komplementäres Stereotyp zu tun. Bei komplementären Stereotypen werden sozialen Gruppen Eigenschaftspaare zugeschrieben, die aus einer günstigen und einer ungünstigen Eigenschaft bestehen, sodass sich deren Effekte gewissermaßen aufwiegen (z. B. attraktive und dumme Blondinen oder geniale und chaotische WissenschaftlerInnen). Berichte über Probleme Brasiliens werden nach diesem Muster sehr oft mit Hinweisen auf die Lebensfreude der Menschen kombiniert.
Welche psychologischen Ursachen und Auswirkungen hat die Verwendung komplementärer Stereotype? Aaron Kay und John Jost (2003) haben dies für die komplementären Stereotype „arm und glücklich“ sowie „reich und unglücklich“ untersucht. Sie stützten sich dabei auf die System Justification Theorie (Jost, Banaji & Nosek, 2004), die postuliert, dass Menschen ein grundlegendes Bedürfnis haben, den status quo im Großen und Ganzen als gerecht zu erleben. Wird man mit Informationen konfrontiert, die dieser Sicht der Dinge widersprechen, kommen kognitive Mechanismen ins Spiel, die die Sachlage so uminterpretieren, dass sie doch wieder gerecht erscheint. Zum Beispiel tendieren Menschen mit besonders hoher Ausprägung des Bedürfnisses, die Welt als gerecht zu erleben, dazu, Opfern von Ungerechtigkeiten eine Schuld für ihre Lage zuzuschreiben oder sie auf andere Weise abzuwerten (Hafer & Rubel, 2015).
Kay und Jost (2003) vermuteten, dass die Verwendung komplementärer Stereotype einen alternativen Mechanismus darstellen könnte, um Ungerechtigkeiten wie extreme Reichtumsunterschiede weniger ungerecht erscheinen zu lassen. Wenn die Welt so aussieht, dass Menschen zwar arm aber glücklich sind, während Reichtum sorgenvoll und unglücklich macht, dann scheint das Schicksal ja doch irgendwie für Gerechtigkeit zu sorgen. Um ihre Hypothese empirisch zu testen, präsentierten Kay und Jost (2003) ihren ProbandInnen Beschreibungen von Personen, die reich und glücklich, reich und unglücklich, arm und glücklich oder arm und unglücklich waren. Anschließen erfassten sie, wie sehr die ProbandInnen die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse als gut und gerecht erlebten. Es zeigte sich, dass ProbandInnen, die Personenbeschreibungen gelesen hatten, die komplementären Stereotypen entsprachen (arm und glücklich oder reich und unglücklich), die gesellschaftlichen Verhältnisse als gerechter erlebten als ProbandInnen, die mit nicht-komplementären Stereotypen (arm und unglücklich oder reich und glücklich) konfrontiert worden waren.
Zurück zu Rio de Janeiro und Olympia: Das Land durchlebt eine Krise, das für Olympia ausgegebene Geld wäre anderweitig wahrscheinlich besser investiert, Versprechungen an die Bevölkerung wurden nicht eingehalten und es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen bei den Vorbereitungen auf die Spiele. Könnte es sein, dass das Bild eines gebeutelten, aber dennoch lebensfrohen Brasiliens deshalb so oft bemüht wird, weil es so gut erlaubt, diese negativen Dinge zu erwähnen, sie aber gleichzeitig abzufedern, um kein allzu düsteres Bild zu zeichnen? Schließlich soll Olympia ja Spaß machen und wir wollen nur zu gerne glauben, dass im Großen und Ganzen schon ok ist, was da alles so im Umfeld passiert.
Referenzen:
Hafer, C. L., & Rubel, A. N. (2015). The why and how of defending belief in a just world. In J.M. Olson & M.P. Zanna (Eds.), Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 51, pp. 41-96). London, UK: Elsevier.
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