Jeitinho – Die brasilianische Art, Probleme zu lösen
Verzögerungen bei Stadionbauten, Kriminalität, Demonstrationen. Die Berichterstattung im Vorfeld der WM in Brasilien war von vielen Themen geprägt, die nur indirekt etwas mit Fußball zu tun haben. So skeptisch die Vorbereitungen zur WM von vielen Kommentatoren beäugt wurden, so zuversichtlich waren und sind viele BrasilianerInnen, dass am Ende doch alles gut funktionieren wird. Diese Zuversicht speist sich zum Teil aus ihrem Wissen um jeitinho, die besondere brasilianische Art, Probleme zu lösen. Was hat es damit auf sich?
Jeitinho bedeutet sinngemäß „kleiner Ausweg“. Gemeint ist die typisch brasilianische Art, Widrigkeiten des Alltags mit Kreativität und Herzlichkeit zu meistern. Typischerweise geht es darum, an bürokratischen Vorschriften vorbei eine Lösung für ein persönliches Problem zu finden. Damit das klappt, müssen andere Personen, die man in der Regel nicht persönlich kennt, ein Auge zudrücken. Um deren Wohlwollen zu gewinnen, versucht man, spontan eine persönliche Beziehungsebene herzustellen, z.B. indem man auf gemeinsame Freunde oder denselben Lieblingsfußballverein verweist. Entscheidend ist, dass man die betreffenden Personen emotional in das Problem involviert und so das eigene Problem ein bisschen auch zu ihrem macht.
Der jeitinho bewegt sich im Spannungsfeld zwischen persönlichem Gefallen und Korruption. Er unterscheidet sich vom persönlichen Gefallen durch eine geringere Verbindlichkeit und das fehlende Element der Gegenseitigkeit. Von Korruption unterscheidet er sich dadurch, dass nicht persönliche Bereicherung im Vordergrund steht, sondern das Lösen eines konkreten Problems. Studien zeigen, dass BrasilianerInnen diese Abgrenzungen zwar vornehmen, wenn sie jeitinho definieren sollen. Allerdings verschwimmen diese Grenzen, sobald es um die Beurteilung konkreter Alltagssituationen geht. In einer neueren Studie wurden beispielsweise verschiedene Situationen analysiert, die von brasilianischen ProbandInnen zuvor als typische Beispiele für jeitinho eingeschätzt worden waren (Ferreira et al., 2012). Es zeigte sich, dass man verschiedene Subtypen von jeitinho unterscheiden kann, die durch drei Themen charakterisiert werden können: Kreativität, Missachtung sozialer Normen und Korruption. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen auch, dass das Verhältnis der BrasilianerInnen zum jeitinho ambivalent ist: Während der jeitinho als kulturelles Phänomen insgesamt positiv gesehen wird, werden viele der damit verbundenen Verhaltensweisen negativ bewertet.
Es passt zu diesen Befunden, dass viele BrasilianerInnen immer weniger bereit sind, einen jeitinho als Lösung für soziale Probleme zu akzeptieren. Man kann es zwar kreativ finden, dass die Stadtverwaltung von Rio WM-Spieltage zu Feiertagen erklärt hat, um den Berufsverkehr zu reduzieren und ein Verkehrschaos zu vermeiden. Begeistert sind darüber aber nur die Wenigsten angesichts der Tatsache, dass versprochene Infrastrukturprojekte nicht umgesetzt wurden und niemand erklären kann, was mit dem Geld passiert ist.
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