Von „Symptom-Gewuseln“ und wie man sie entwirren könnte
In einer Depression können sich Symptome überwältigend anfühlen. Eine recht neue Forschungsmethode könnte mehr Ordnung in das Chaos bringen.
Vereinfacht ausgedrückt werden psychische Störungen diagnostiziert, indem Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen und Verhaltensweisen einer Person mit Symptomlisten abgeglichen werden. Bei einer Depression besteht solch eine Liste unter anderem aus Punkten wie niedergeschlagener Stimmung, Interessenverlust, Erschöpfung, Unruhezuständen, niedrigem Selbstvertrauen, Konzentrationsproblemen, Suizidgedanken, gestörtem Schlaf und verändertem Appetit.
Aber während Markus (24, Student) unter Selbstvorwürfen leidet, die erste Nachthälfte wach liegt, dann morgens kaum aus dem Bett kommt, tagsüber erschöpft ist und sich nicht auf sein Studium konzentrieren kann, ist Yasmin (32, Ingenieurin) schon um 5.30 Uhr wach, fühlt sich so unruhig, dass sie es kaum aushält, still zu sitzen, und denkt daran, sich etwas anzutun. Depressive Erkrankungen sind also von Person zu Person verschieden. Bei Markus wird außerdem deutlich, dass sich einzelne Symptome gegenseitig beeinflussen könnten: Sein gestörter Schlaf könnte die Erschöpfung verstärken, die wiederum Konzentrationsprobleme verschlimmert. Da die nächste Prüfung näher rückt und er sich noch nicht aufs Lernen konzentrieren konnte, macht Markus sich Vorwürfe, zu wenig für die Uni zu tun.
Wollen wir eine psychische Störung behandeln, orientieren wir uns bei der Auswahl der Therapiestrategien an der gestellten Diagnose. Wenn aber sehr heterogene Phänomene in einer Diagnose zusammengefasst sind, könnten dadurch individuelle Unterschiede vernachlässigt werden. Das erschwert die Planung einer erfolgreichen Therapie, in der einzelne Behandlungselemente auf zentrale Symptome abzielen sollten. Um solche zentralen, wichtigen Prozesse zu identifizieren können Symptome und deren Zusammenhänge zueinander in Netzwerken dargestellt werden. Ein Symptom, das besonders viele Verbindungen zu anderen Symptomen aufweist (wie die Erschöpfung bei Markus), könnte eventuell einen größeren Einfluss auf die gesamte Krankheit haben als ein Symptom, das wenig Zusammenhänge bietet.
Eine niederländische Forschungsgruppe hat etwa 500 Personen unter die Lupe genommen, um nach ebensolchen Verbindungen zwischen depressiven Symptomen zu suchen. Obwohl die Versuchspersonen zum Untersuchungszeitpunkt nicht depressiv waren, konnte ein „Depressionsnetzwerk“ dargestellt werden. Dies war möglich, weil alle Menschen zeitweise einzelne Symptome erleben, die auch im Rahmen einer Depression auftreten. Die Symptome mit den meisten Verbindungen waren depressive Stimmung, Erschöpfung, Interessenverlust und Konzentrationsprobleme. Und noch wichtiger: Ob eine Person in den nächsten sechs Jahren depressiv wurde, ließ sich mit genau diesen „zentralsten“ Beschwerden am besten vorhersagen. Diesen vier Symptomen könnte also bei der Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer Depression eine besonders wichtige Rolle zukommen.
Auf diese Art wurden aus einem großen Netz von Beschwerden genau solche herausgefiltert, die beispielsweise hausärztliches Fachpersonal dabei unterstützen könnten, besonders anfällige PatientInnen früh zu erkennen. Im Rahmen weiterer Forschung könnten daran angepasste Präventions- und Behandlungsstrategien entwickelt bzw. verbessert werden.
Ein Beitrag von Timo Slotta aus der Forschungsgruppe Klinische Psychologie Köln.
Quelle:
Boschloo, L., van Borkulo, C. D., Borsboom, D., & Schoevers, R. A. (2016). A prospective study on how symptoms in a network predict the onset of depression. Psychotherapy and psychosomatics, 85(3), 183-184.
Bildquelle:
Sasint via Pixabay: https://pixabay.com/de/photos/m%C3%A4dchen-sitzen-anlegestelle-1822702/
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