Warum schicken wir todmüde Jugendliche in die Schule?
Die meisten Eltern leiden darunter: Kleinkinder sind extreme FrühaufsteherInnen! Die meisten Jugendlichen bekommt man hingegen nur schwer aus dem Bett. Warum eigentlich?
Sind Sie eine Lerche oder eine Eule? Die meisten Leute können mit dieser Frage etwas anfangen, denn es hat sich herumgesprochen, dass manche Menschen FrühaufsteherInnen (Lerchen) und andere SpätaufsteherInnen (Eulen) sind. Dabei wird der Schlaf fundamental von zwei Prozessen reguliert. Prozess S steht wissenschaftlich für den Schlafdruck, der mit jeder Minute im Wachzustand ansteigt und zum Beispiel durch die Anreicherung von Metaboliten wie Adenosin im Gehirn entsteht. Dieser Schlafdruck kann kurzfristig durch Substanzen wie Koffein, welches die Adenosinrezeptoren im Hirn blockiert, gehemmt werden und bestimmt die Schlaftiefe und -dauer. Prozess C hingegen regelt den Schlafzeitpunkt und wird durch die innere Uhr des Menschen festgelegt.
Bei allen Menschen wird die innere Uhr durch das Hormon Melatonin, welches bei einsetzender Dunkelheit ausgeschüttet wird, im ganzen Körper synchronisiert. Diese innere Uhr bestimmt die Schwankung von Botenstoffen im Körper, die die Körpertemperatur, das Hungergefühl aber auch die kognitive Leistungsfähigkeit bestimmen. Menschen unterscheiden sich jedoch biologisch dahingehend, in welchem zeitlichen Abstand zum Melatonin-Ausstoß diese Botenstoffe steigen und fallen, und damit auch im Zeitpunkt, zu dem sie am besten einschlafen können. Dieser Zeitpunkt wird vor allem durch genetische Faktoren bestimmt – wissenschaftlich als Chronotyp bezeichnet und populärwissenschaftlich als „Eulen“ oder „Lerchen“ übersetzt. Jedoch sind auch Alter und Geschlecht wichtige Einflussfaktoren. Der ideale Einschlafzeitpunkt ist für Jugendliche im Durchschnitt – verglichen mit Erwachsenen – deutlich nach hinten verschoben, und je älter man wird, desto eher verschiebt er sich wieder nach vorne. Da Personen, die eher früh einschlafen, auch eher früh aufstehen können, fällt es vielen Jugendlichen vergleichsweise schwerer, morgens aus dem Bett zu kommen. Sie sind also nicht zu faul zum Aufstehen – vielmehr sagt ihnen ihr Körper, es sei noch mitten in der Nacht.
Obwohl diese Unterschiede zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern gut belegt sind, sollte man sich vergegenwärtigen, dass es sich um Mittelwertsunterschiede handelt und es daher auch Jugendliche gibt, die gerne früh aufstehen, und Erwachsene, die dies nicht tun. Trotzdem kann man festhalten, dass der überwiegende Anteil Jugendlicher ihrer inneren Uhr nach zu früh aufstehen muss, um rechtzeitig in der Schule zu erscheinen. Dieser Umstand kann aus zwei Gründen zu einer akut schlechteren Leistungsfähigkeit in der Schule führen: Zum einen bestimmt Prozess C nicht nur den Schlafzeitpunkt, sondern auch den Zeitpunkt höchster kognitiver Leistungsfähigkeit, welcher bei Eulen erst später am Tag erreicht wird. Zum anderen sind Eulen zu Zeiten, an denen Lerchen ihre Augen kaum aufhalten können, noch hellwach, und können somit nicht effektiv früher einschlafen. Um früh zu erwachen, müssen diese Personen also regelmäßig auf Schlaf verzichten, was sich aufgrund von Prozess S zu einem erheblichen Schlafdruck aufbauen kann und regelmäßig durch längeres Schlafen am Wochenende, gelegentlichen Mittagsschlaf und nicht selten sogar Schlaf während des Unterrichts ausgeglichen werden muss. Schlafmangel führt zu starken kognitiven Leistungseinbußen und verschlechtert exekutive Funktionen und Impulskontrolle. Das heißt, bekommen SchülerInnen zu wenig Schlaf, ist es nicht verwunderlich, dass schulische Leistungen, regelkonformes Verhalten und emotionaler Ausdruck nicht in der von Lehrkräften gewünschten Form stattfinden. Obwohl dieses Problem nicht alle SchülerInnen betrifft, finden wissenschaftliche Studien übereinstimmend, dass ein späterer Schulstart die schulische Leistungsfähigkeit signifikant verbessert.
Bei solch einer einfachen Lösung für ein Problem, das zumindest mir in der Schule viele Probleme bereitet hat, ist es verwunderlich, dass Schule trotzdem noch immer zu früh anfängt. Mir drängen sich drei Gründe dafür auf. Erstens ist das Lehrpersonal im Durchschnitt deutlich älter als die Schülerschaft und damit eher früh aufstehend – somit hat es überwiegend Interesse daran, die Schule früh zu beginnen. Zum anderen wollen gerade Eltern von SpätaufsteherInnen, dass ihre Kinder das Haus verlassen haben, bevor sie selbst zur Arbeit eilen – oder müssen sie sogar mit dem Auto zur Schule bringen. Zuletzt spielt die Auslastung des öffentlichen Personennahverkehrs eine Rolle, der der Planung nach zuerst die Schülerschaft rechtzeitig zur Schule transportiert und danach die Arbeitenden und Angestellten zur Arbeit bringt.
Trotz dieser Lage ist es aus meiner Sicht möglich, dem Problem zu begegnen. Zuerst sollte mittlerweile jeder Mensch wissen, dass FrühaufsteherInnen nicht leistungsfähiger sind als SpätaufsteherInnen – zumindest ist die Studienlage eindeutig. Vielmehr hat, wie bereits erwähnt, jeder Mensch ein individuelles Zeitfenster für sein Leistungsmaximum. Statt also alle Menschen zur gleichen Zeit in der Schule (und im Büro) erscheinen zu lassen und somit eine Gruppe zu benachteiligen, könnte ein je nach Chronotyp gestaffelter Schul- und Arbeitsbeginn die Lösung darstellen, um die Gesamtproduktivität in einer Gesellschaft zu maximieren. Denn auch manche Lehrpersonen und Eltern sind meiner Erfahrung nach ausgeprägte Eulen.
Quellen:
Dunster, G. P., de la Iglesia, L., Ben-Hamo, M., Nave, C., Fleischer, J. G., Panda, S., & Horacio, O. (2018). Sleepmore in Seattle: Later school start times are associated with more sleep and better performance in high school students. Science advances, 4(12), eaau6200.
Fonseca, A. G., & Genzel, L. (2020). Sleep and academic performance: considering amount, quality and timing. Current Opinion in Behavioral Sciences, 33, 65-71.
Roenneberg, T., Pilz, L. K., Zerbini, G., & Winnebeck, E. C. (2019). Chronotype and social jetlag: A (self-) critical review. Biology, 8(3), 54.
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