Wie Vorlesen Kinder hilfsbereiter macht
Wenn einer Erzieherin in der KiTa ein Becher vom Tablett fällt, dann kann sie wahrscheinlich beobachten, wie ein paar Kinder ihr Spiel unterbrechen, um ihr zu Hilfe zu eilen, ein paar andere jedoch nur kurz aufschauen und sich dann doch wieder in ihr Spiel vertiefen. Wie kommt es denn zu solchen Unterschieden in der Hilfsbereitschaft von kleinen Kindern und was können Eltern tun, um die Hilfsbereitschaft ihrer Kinder zu fördern?
Dass soziale und gesellschaftliche Werte, Normen und Regeln die Hilfsbereitschaft von Erwachsenen beeinflussen, ist unumstritten. Wie ist das allerdings bei den Kleinen? Schon Kinder im Alter von 14 Monaten sind in bestimmten Situationen dazu bereit, Hilfe zu leisten. In diesem Alter sind Kinder allerdings noch nicht sehr sensibel für soziale und moralische Normen. Kann Hilfsbereitschaft dennoch schon in diesem Alter durch Sozialisierungsprozesse beeinflusst und eventuell sogar gefördert werden?
Forschende der University of Pittsburgh haben sich dieser Frage gewidmet. Dabei haben sie untersucht, inwiefern verschiedene Vorlesestile die Hilfsbereitschaft junger Kinder im Alter von 1 ½ bis 2 ½ Jahren beeinflussen können. Gemeinsames Lesen eröffnet Eltern die Möglichkeit, innere Zustände anderer zu thematisieren und dadurch das Verständnis von Emotionen zu fördern. Das ForscherInnenteam vermutete, dass Kinder, wenn Eltern mit ihnen über Gefühle reden, nicht nur lernen, ihre eigenen Gefühle besser wahrzunehmen und zu berücksichtigen, sondern auch, vermehrt auf die Gefühle anderer zu achten. Wenn Kinder besser verstehen, was in anderen vorgeht und wie andere sich fühlen, sind sie dann also auch eher bereit, Hilfe zu leisten?
In zwei Studien lasen Eltern Kindern aus Bilderbüchern vor. Dabei beobachten die Forschenden, ob die Eltern Gefühle der Figuren sowie andere mentale Konstrukte wie Erinnerungen und Gedanken oder innere Zustände wie Hunger und Müdigkeit benannten. Des Weiteren wurde erfasst, ob die Eltern ihre Kinder motivierten, sich selbst in die Figuren hineinzuversetzen und Gefühle, mentale und innere Zustände zu benennen und zu erklären.
Im Anschluss organisierten die Forschenden verschiedene Situationen, in welchen eine andere Person Hilfe benötigte. Diese Person hatte dann zum Beispiel kein Spielzeug, wohingegen das Kind viele Spielzeuge vor sich liegen hatte. Hierbei wurde untersucht, ob und wann die Kinder bereit sind, zu teilen. In einer anderen Situation benötigte die Person Hilfe, weil sie entweder einen Gegenstand, welchen sie brauchte, um eine Aufgabe zu lösen (z.B. ein Werkzeug) oder einen, den sie benötigte, um einem Bedürfnis nachzugehen (z.B. Essen, weil sie Hunger hatte oder eine Decke, weil ihr kalt war), nicht erreichen konnte.
In beiden Studien konnte beobachtet werden, dass Kinder, die von ihren Eltern motiviert wurden, selbst die Gefühle der Figuren in den Kinderbüchern zu benennen oder diese zu erklären, öfter und schneller Hilfe leisteten. Allerdings waren diese Effekte nur in Situationen beobachtbar, in welchen die Kinder die Möglichkeit hatten, zu teilen, oder der hilfsbedürftigen Person, welche einem inneren Bedürfnis nachgehen wollte, Hilfe zu leisten. Benötigte die Person Hilfe, um eine instrumentelle Aufgabe zu benötigen, so hatte der Vorlesestil keine Auswirkungen darauf, ob die Kinder halfen oder nicht. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es für Kinder einfacher ist, zu erkennen, ob jemand instrumentelle Hilfe benötigt. Dafür müssen sie nur erkennen, welches Ziel der/die Hilfesuchende verfolgte. Wenn es jedoch um empathische Hilfe geht, müssen Kinder ein Verständnis für die inneren und mentalen Zustände der Personen entwickelt haben. Die vorgestellte Studie zeigt, dass für die Entwicklung dieser komplexen Fähigkeit die elterlichen Denkanregungen besonders wichtig und förderlich sind.
Ob die Eltern selbst die Gefühle und die mentalen oder inneren Zustände der Figuren benannten, hatte keinen Effekt auf die Hilfsbereitschaft der Kinder. Auch wenn diese nicht immer auf die Fragen ihrer Eltern antworteten, hatte die Mühe der Eltern, ihre Kinder dazuzubringen, über die Gefühle der Buchcharaktere nachzudenken und diese zu formulieren, Auswirkungen auf die Hilfsbereitschaft der Kinder.
Laut AutorInnen zeigt diese Studie, dass auch schon bei sehr jungen Kindern Sozialisierungsprozesse Einflüsse auf deren Hilfsbereitschaft haben können und dass nicht die Quantität, sondern die Qualität der emotionsbezogenen Kommunikation der Eltern mit ihren Kindern entscheidend ist für die Förderung von Hilfsbereitschaft.
Quelle:
Brownell, C. A., Ramani, G. B., & Zerwas, S. (2006). Becoming a Social Partner With Peers: Cooperation and Social Understanding in One- and Two-Year-Olds. Child Development, 77(4), 803–821.
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