Identität als Zielscheibe: Prebunking gegen Kreml-Desinformation
Der russische Angriffskrieg findet nicht nur auf ukrainischem Boden statt. Er wird von einer globalen Desinformationskampagne begleitet, die darauf abzielt, die internationale Solidarität für die Ukraine zu untergraben und Russlands Image zu verbessern. Ein Forschungsteam hat nun untersucht, ob Personen mit einem russischen Migrationshintergrund anfälliger für Kreml-Desinformation sind und wie man sie mit Inokulation, einer psychologischen Intervention gegen Desinformation, schützen kann.
Verschiedene Organisationen, Journalist:innen und Forscher:innen beobachten und analysieren seit vielen Jahren russische Desinformationskampagnen. Russische Desinformation im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine umfasst irreführende, inakkurate oder frei erfundene Informationen, welche Russland in einem positiven Licht darzustellen und gleichzeitig die Ukraine sowie deren Verbündete diskreditieren (Ziemer et al., 2024). Dabei ist russische Desinformation sorgfältig ausgearbeitet und greift – je nach Zielpublikum – regionale Schwachstellen wie anti-westliche Einstellungen (z.B. in Ländern Lateinamerikas oder Afrikas) oder historische Verbundenheit auf (z.B. ehem. Sowjetstaaten/deren Verbündete; Krainikova & Prokopenko, 2023). Drei prominente russische Desinformationsnarrative im Kontext des Angriffskriegs gegen die Ukraine sind: (1) „Es hat nicht stattgefunden“ (z.B. werden Kriegsverbrechen wie Butscha geleugnet und als ukrainische Inszenierung dargestellt), (2) „Der Westen ist schuld“ (z.B. wird behauptet, die Vergrößerung der NATO ließ Russland keine andere Wahl als ihr Einflussgebiet zu sichern) und (3) „Andere machen dasselbe“ (der Krieg wird z.B. dadurch begründet, dass Staaten wie die USA in der Vergangenheit ebenso unrechtmäßige Kriege geführt haben).
Inokulation schützt gegen Desinformation
Seit einigen Jahren boomt die interdisziplinäre Forschung zu Interventionen gegen Desinformation. Ein vielversprechender Ansatz dabei ist die Inokulation (engl. Inoculation), was als „mentale Impfung“ verstanden werden kann. Dieser Prebunking-Ansatz immunisiert Personen gegen Desinformation, bevor sie damit in Kontakt kommen – im Gegensatz zu Debunking-Interventionen wie z.B. Fact-Checking, welche erst nach dem Kontakt mit Desinformationen ansetzen (Ziemer & Rothmund, 2024). Nachdem Personen zunächst vor einem Desinformationsangriff gewarnt werden und damit ihr psychologisches „Abwehrsystem“ aktiviert wird, präsentiert die Inokulation typische Narrative oder Strategien von Desinformation und erklärt, was daran falsch ist. Dadurch wird das psychologische Abwehrsystem trainiert und Personen erlangen Immunität gegen künftige Desinformationsattacken. Viele Studien belegen die generelle Effektivität von Inokulation gegen verschiedene Formen von Desinformation. Es ist jedoch nicht klar, ob diese Intervention für alle Personengruppen gleich gut wirkt (Lewandowsky & van der Linden, 2021).
In einer aktuellen Studie wird daher untersucht, ob Inokulation das Erkennen von russischer Desinformation verbessert und Einstellungen über den Angriffskrieg verändert. Außerdem wird geprüft, ob Personen mit einem russischen Migrationshintergrund anfälliger für Kreml-Desinformation und weniger empfänglich für Inokulation sind (Ziemer et al., 2024).
Im August 2023, also anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn, wurde eine Online-Befragung mit 597 Personen aus Deutschland durchgeführt; etwa die Hälfte davon hatte einen russischen Migrationshintergrund und identifizierte sich mit Russland. Diese 597 Personen wurden zufällig einer von zwei Gruppen zugewiesen. Eine Gruppe erhielt die Inokulations-Interventionen (siehe Abbildung) und eine Kontrollgruppe las Tipps für einen gesunden Lebensstil, die weder etwas mit Desinformation noch mit dem Krieg zu tun hatten. Durch die zufällige Zuweisung wurde sichergestellt, dass eventuelle Störvariablen in beiden Gruppen gleich häufig vorkommen und Unterschiede zwischen beiden Gruppen rein auf die Intervention zurückzuführen sind. Danach beantworteten beide Gruppen Fragen zur Wahrnehmung von russischer Desinformation und Einstellungen zum Angriffskrieg (Ziemer et al., 2024).
Personen mit russischem Migrationshintergrund sind anfälliger für russische Desinformation, aber Inokulation bietet einen guten Schutz
Wie vermutet zeigte sich, dass Personen mit einem russischen Migrationshintergrund anfälliger für russische Desinformation sind. Sie erkannten russische Desinformation schlechter und empfanden sie als glaubwürdiger. Außerdem glaubten sie weniger daran, dass Russland für den Krieg verantwortlich sei, und zeigten geringere Solidarität mit der Ukraine. Dennoch konnte gezeigt werden, dass Inokulation vor russischer Desinformation schützt – und zwar unabhängig davon, ob die Personen einen russischen Migrationshintergrund hatten oder nicht. Inokulierte Teilnehmende erkannten russische Desinformation besser und empfanden sie als weniger glaubwürdig. Sie glaubten eher an eine Verantwortung Russlands für den Krieg und zeigten mehr Solidarität mit der Ukraine (Ziemer et al., 2024).
Ein ganzheitlicher Ansatz im Kampf gegen Desinformation
Indem Personen durch Interventionen wie Inokulation lernen, typische Desinformationsstrategien und -narrative zu erkennen, schützen sie sich gegen eine Vielzahl von Desinformationen. Schlussendlich profitiert die individuelle Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation jedoch am meisten von einer Kombination aus Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen. Dies kann zum Beispiel eine Kombination von psychologischen Ansätzen wie der Inokulation verbunden mit der strengeren gesetzlichen Regulierung von Social-Media Plattformen und der kontinuierlichen Förderung von unabhängigem Qualitätsjournalismus darstellen.
Literaturverzeichnis
Lewandowsky, S. & Van der Linden, S. (2021). Countering misinformation and fake news through inoculation and prebunking. European Review Of Social Psychology, 32(2), 348–384. https://doi.org/10.1080/10463283.2021.1876983
Ziemer, C. & Rothmund, T. (2024). Psychological underpinnings of misinformation countermeasures. Journal Of Media Psychology Theories Methods And Applications. https://doi.org/10.1027/1864-1105/a000407
Ziemer, C., Schmid, P., Betsch, C. & Rothmund, T. (2024). Identity is key, but inoculation helps – how to empower germans of russian descent against pro-kremlin disinformation. Advances in/Psychology, 2. https://doi.org/10.56296/aip00015
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