Depression – Eine entzündliche Erkrankung?
Die depressive Störung ist weltweit eine der wichtigsten Ursachen für Invalidität. Ein neues psycho-biologisches Erklärungsmodell öffnet den Blick für neue Therapieansätze.
Die depressive Störung (Major Depressive Disorder) gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und wichtigsten Ursachen für Invalidität weltweit. Obwohl verschiedene psychotherapeutische und medikamentöse Ansätze zu ihrer Behandlung zur Verfügung stehen, gelingt bei einem wesentlichen Anteil der Betroffenen keine befriedigende Heilung. Das seit Jahrzehnten dominierende psycho-biologische Entstehungsmodell der depressiven Störung geht von einem Mangel der Botenstoffe Serotonin und/oder Dopamin im Gehirn aus – ein Mangel, der sich beispielsweise mit antidepressiven Medikamenten beheben lässt. Als Achillesferse dieses Erklärungsansatzes gilt, dass Antidepressiva diesen Mangel innerhalb von Stunden beheben können, die Wirksamkeit gegen depressive Verstimmung jedoch meist erst nach Wochen eintritt – wenn überhaupt. Alternative psycho-biologische Modelle sehen mangelnde Neuroplastizität – die Einschränkung der Fähigkeit des Gehirns, neue Verknüpfungen (oder Synapsen) zu bilden – als Kernproblematik bei der Entstehung der depressiven Störung. Ein möglicher Grund für die eingeschränkte Neuroplastizität wiederum ist eine überschießende Immunreaktion. Belegt ist, dass (1) bei Personen mit depressiver Störung Entzündungsindikatoren wie Interleukine und Tumornekrosefaktor-α chronisch erhöht sind, (2) ein Viertel der PatientInnen, die mit Interferon gegen Hepatitis C behandelt werden, unmittelbar darauf depressive Symptome entwickeln (Interferon führt zu einer unspezifischen Stimulation der Immunabwehr gegen verschiedene Virusinfektionen), und (3) dass klassische Antidepressiva auch entzündungshemmende Effekte entfalten, was für ihre Wirksamkeit verantwortlich sein könnte.
In einer experimentellen Studie untersuchte eine Arbeitsgruppe um Thomas Pollmächer (damals am Max Planck-Institut für Psychiatrie in München) die akuten Effekte einer Infektion mit einer Salmonellenart (Salmonella Abortusequi), die in geringen Mengen bei Menschen zwar eine Immunreaktion jedoch keine Erkrankung auslöst. In dieser kontrollierten Doppelblindstudie mit 20 gesunden Personen wurden die Entzündungsindikatoren Interleukin 6 und Tumornekrosefaktor-α sowie die Körpertemperatur nach der experimentellen Infektion stündlich gemessen. Zudem wurden Angstsymptomatik und depressive Verstimmung dreimal (1, 3 und 9 Stunden nach der Infektion) erfasst. Die Ergebnisse zeigen, dass die Entzündungsindikatoren sofort deutlich anstiegen, während die StudienteilnehmerInnen keine subjektiven Krankheitssymptome wie z. B. Schüttelfrost berichteten und sich die Körpertemperatur lediglich um 0.5° C erhöhte. Zeitgleich mit den Entzündungsindikatoren stiegen auch Angstsymptomatik und depressive Verstimmung, wobei der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Entzündungsreaktion und der Angst- sowie der depressiven Symptomatik überraschend stark war (je nach Messzeitpunkt Korrelationen zwischen r = .40 und r = .75). In der Vergleichsbedingung zeigte sich kein entsprechender Anstieg der Angst- und depressiven Symptomatik. Für die Praxis bedeutet dies, dass man womöglich nicht nur körperlichen, sondern auch schweren psychischen Erkrankungen vorbeugen oder sie lindern kann, indem Gründe für chronische Entzündungen identifiziert, vermieden oder behandelt werden.
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