Cannabis könnte Menschen anfälliger für Pseudoerinnerungen machen
Eine neue Studie weist darauf hin, dass Cannabis das Gedächtnis beeinträchtigen und Pseudoerinnerungen verursachen könnte. Cannabis ist eines der weltweit am meisten konsumierten Rauschmitteln, und oft stehen auch ZeugInnen und TäterInnen unter Einfluss dieser Droge. Die Studie legt nahe, dass dies bedenklich für die Richtigkeit ihrer Aussagen sein kann.
Eine Erinnerung ist nicht einfach der Abruf von „wahren“ Begebenheiten, sondern beinhaltet immer eine Rekonstruktion von dem, was man für die Wahrheit hält. Unsere Erinnerungsbildung hängt vom Kontext, internalisierten sozialen Erwartungen und subjektiven Wünschen ab. Das ist ein komplexes Denksystem, in das sich Fehler einschleichen können – besonders dann, wenn „Gras“, also Cannabis, im Spiel ist.
Aus früheren Studien wissen wir, dass Cannabiskonsum das
Gedächtnis beeinträchtigen und Vergesslichkeit fördern kann (Broyd et al., 2016). Eine neue Studie stellte nun auch eine Verbindung zwischen Cannabiskonsum und der Bildung von Pseudoerinnerungen her – also Erinnerungen für Details oder Ereignisse, die so nicht passiert sind. Das ist dann besonders problematisch, wenn Cannabis-Berauschte ZeugInnen oder Verdächtige eines Verbrechens werden.
Der Effekt von Cannabis auf Pseudoerinnerungen wurde in einer randomisierten,
placebo-kontrollierten Doppelblindstudie untersucht (Kloft et al., 2020). Dieses experimentelle Design gilt in der Forschung als „Goldstandard“, da es die Effekte einer Droge isolieren kann. In einer
Stichprobe von 64 gesunden ProbandInnen wurden mithilfe von drei verschiedenen Gedächtnistests die (Pseudo-)Erinnerungen der Studienteilnehmenden getestet – unmittelbar nach der Einnahme von medizinischem Cannabis bzw. eines Placebos (= inaktiver Stoff) und eine Woche danach.
Im ersten Test lernten die Teilnehmenden 15 Listen verwandter Wörter. Probandinnen, die unter Cannabis-Einfluss standen, meinten, sich häufiger an Wörter zu erinnern, die ihnen zuvor nicht gezeigt worden waren, als Personen der
Placebo-Gruppe. Dieser Effekt war am stärksten bei Wörtern, die eine geringe oder gar keine Verbindung zu den gelernten Themen aufwiesen.
Bei den anderen beiden Tests erlebten die Teilnehmenden in der Rolle einer bezeugenden Person eine Bahnhofsprügelei oder begingen selbst einen Handtaschendiebstahl – alles virtuell in „Virtual Reality“ - Technologie. Danach erhielten sie mithilfe von suggestiven Fragen einer interviewenden Person oder durch den irreführenden Bericht einer virtuellen Zeugin Falschinformationen über das Ereignis. Im Anschluss wurden die Versuchspersonen dann unter Verwendung von suggestiven aber auch neutralen Fragen zu wahren und falschen Details über die erlebten Ereignisse befragt. Cannabis verstärkte die Anfälligkeit für Pseudoerinnerungen in beiden Szenarien: Im AugenzeugInnenszenario stimmten cannabisberauschte Teilnehmende häufiger als
Placebo-ProbandInnen fälschlicherweise suggestiven und neutralen Fragen zu. Im TäterInnenszenario neigten cannabisberauschte Teilnehmende insgesamt eher dazu, Fragen mit „Ja“ zu beantworten.
Als alle Gruppen eine Woche später nochmals getestet wurden, waren kaum mehr Unterschiede zwischen der Cannabis- und der Placebo-Gruppe festzustellen. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass das Gedächtnis mit der Zeit abnimmt und sich daher die Leistung der Placebo-ProbandInnen verschlechterte, wohingegen die Leistung in der Cannabis-Gruppe konstant blieb.
Die wichtigste Erkenntnis aus der Studie ist, dass Cannabiskonsum das Gedächtnis beeinträchtigte, indem er verschiedene Arten von Erinnerungsfehlern erhöhte. Dieser Effekt war für Details oder Wörter, die in geringerem Zusammenhang zu dem zuvor Erlernten oder Erfahrenen standen, am stärksten. Dies weist auf eine willkürliche Antworttendenz bei cannabisberauschten Personen hin, die für polizeiliche Befragungen problematisch sein kann.
Wenn ZeugInnen oder Verdächtige „high“ sind, sollten Befragungen daher erst dann stattfinden, wenn die Person wieder nüchtern ist. Wenn eine Person jedoch während eines Ereignisses unter Cannabiseinfluss stand, kann sie später immer noch eine „Ja“-Sage-Tendenz zeigen. Dies bedeutet, dass Menschen, die von Cannabis berauscht sind, im Zusammenhang mit Straftaten möglicherweise als vulnerable, also schutzbedürftige Gruppe behandelt werden müssen – ähnlich wie es bei Kindern und älteren Menschen bereits der Fall ist.
Quellen:
Broyd, S. J., van Hell, H. H., Beale, C., Yücel, M., & Solowij, N. (2016). Acute and chronic effects of cannabinoids on human cognition—a systematic review. Biological Psychiatry, 79(7), 557-567. doi:10.1016/j.biopsych.2015.12.002
Kloft, L., Otgaar, H., Blokland, A., Monds, L. A., Toennes, S. W., Loftus, E. F., & Ramaekers, J. G. (2020). Cannabis increases susceptibility to false memory. Proceedings of the National Academy of Sciences, 201920162. doi:10.1073/pnas.1920162117
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