Gesundheitsrisiko oder Betrug – Lassen sich Prüfungen digitalisieren, ohne dabei die Prüfungsintegrität zu gefährden?
Die fortgesetzte Corona-Krise zwingt Bildungseinrichtungen vor wichtigen Prüfungen zu einer Abwägung zwischen zwei Übeln: Bei Präsenzprüfungen entstehen ganz reale Gesundheitsrisiken für Prüflinge und Prüfende, während eine Digitalisierung der Prüfung mutmaßlich das Risiko steigert, dass Prüflinge schummeln. Welche Wege führen die digitale Gesellschaft aus diesem Dilemma?
Zunächst einmal ist es wichtig, festzuhalten, dass Betrug in Leistungsprüfungen kein neues Phänomen ist. Spickzettel und der verstohlene Blick auf fremde Klausuren sind weder aus deutschen Klassenzimmern noch aus den Hochschulen wegzudenken. Dabei schwankt das Ausmaß, in dem Lernende betrügen, allerdings erheblich zwischen Prüfungssituationen.
Eine weltweite Studie konnte in Einklang mit psychologischen Theorien der Entscheidungsfindung für sieben verschiedene Länder zeigen, dass vier Faktoren wesentlich mit Schwankungen in der Bereitschaft, zu betrügen, zusammenhängen (Chudzicka-Czupała et al., 2016). So waren Studierende eher bereit, in Prüfungen zu betrügen, wenn sie (1) eine positive Einstellung zu Betrugsverhalten hatten, (2) wahrnahmen, dass Betrug in ihrem Umfeld häufig ist, (3) das Gefühl hatten, dass es ihnen leichtfallen würde, mit Betrugsverhalten davonzukommen und (4) sich nicht moralisch verpflichtet fühlten, nicht zu betrügen.
Ungünstigerweise sind gerade für digitale Prüfungen die Karten in Bezug auf diese Faktoren schlecht gemischt. So zeigt eine hochaktuelle Befragungsstudie, dass kanadische Studierende in Folge der Digitalisierung von Lehre und Prüfungen in der Corona-Krise eine Veränderung der sozialen Normen wahrnahmen. Die Studierenden waren stärker als zuvor der Auffassung, dass ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen in Prüfungen betrügen (Daniels et al., 2021). Eine weitere aktuelle Studie zeigt, dass norwegische Studierende es – genau wie ihre Dozierenden – für einfacher halten, in Online-Klausuren zu betrügen, als in Präsenzklausuren (Chirumamilla, 2020). Dass diese Wahrnehmung gerade in der Corona-Krise besteht, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass in vielen Ländern sehr eilig auf Online-Prüfungsformate umgestellt und dabei die Sicherheit der Prüfungsformate eher unzureichend berücksichtigt wurde (Clark et al., 2020).
Bildungsinstitutionen können die beschriebenen Befunde nun als Rechtfertigung des fortgesetzten Einsatzes von Präsenzprüfungen verstehen. Gleichzeitig wäre es aber auch möglich, auf Basis der pädagogisch-psychologischen Forschung wichtige Weichenstellungen vorzunehmen, um auch während digitaler Prüfungssituationen die Betrugsneigung der Prüflinge zu vermindern. So hätten Studierende wahrscheinlich weniger das Gefühl, dass sie mit Betrugsverhalten davonkommen, wenn die Prüfungssituation live aufgezeichnet würde. Da der Einsatz entsprechender Software allerdings auch eine rechtliche Grundlage erforderlich macht, könnten, bis dies möglich ist, auch clevere Aufgabenformate helfen.
So wäre es durchaus denkbar, Lehrbuch und Spickzettel zu erlaubten Hilfsmitteln zu machen (sogenannte „Open-Book“-Klausuren), wenn gleichzeitig an den Hochschulen wieder in stärkerem Ausmaß offene Fragen mit hohem Transferteil eingesetzt würden. Diese Fragen sind zwar schwerer zu korrigieren als Mehrfachwahlaufgaben, erschweren den Lernenden aber eben auch, zu betrügen. Dies spiegelt sich in der experimentellen Forschung zu Betrugsverhalten: Wird Versuchsteilnehmenden Geld für gute Leistung in Aussicht gestellt, sind diese auch geneigt, in einem Leistungstest zu betrügen, wenn die Prüfungsaufsicht den Raum verlässt. Dies gilt jedoch nur, wenn ihnen vorher vermittelt wurde, dass zur Leistungsbeurteilung nur das Ergebnis und nicht der Lösungsweg bewertet wird. In letzterem Fall führt auch die Abwesenheit der Prüfungsaufsicht zu keiner Steigerung von Betrugsverhalten (Daumiller & Janke, 2019).
Es mangelt entsprechend nicht an Ideen, um die Digitalisierung von Prüfungen zu ermöglichen, ohne gleichzeitig in übermäßigem Ausmaß Betrugsverhalten zu fördern. Neben der Einführung zusätzlicher Kontrollmechanismen hätte der verstärkte Einsatz von tiefgehenden offenen Aufgabenformaten womöglich noch die schöne Nebenwirkung, dass verstärkt echtes Verständnis der Prüfungsinhalte überprüft würde. So könnte aus der aktuellen Krise sogar die Chance erwachsen, oberflächliches „Bulimie-Lernen“ weiter einzudämmen.
Quellen:
Chirumamilla, A., Sindre, G., & Nguyen-Duc, A. (2020). Cheating in e-exams and paper exams: the perceptions of engineering students and teachers in Norway. Assessment & Evaluation in Higher Education, 45(7), 940-957. https://doi.org/10.1080/02602938.2020.1719975
Chudzicka-Czupała, A., Grabowski, D., Mello, A. L., Kuntz, J., Zaharia, D. V., Hapon, N., Lupina-Wegener, A., & Börü, D. (2016). Application of the theory of planned behavior in academic cheating research–cross-cultural comparison. Ethics & Behavior, 26(8), 638-659. https://doi.org/10.1080/10508422.2015.1112745
Clark, T. M., Callam, C. S., Paul, N. M., Stoltzfus, M. W., Turner, D., & Spinney, R. (2020). Testing in the time of COVID-19: A sudden transition to unproctored online exams. Journal of Chemical Education, 97(9), 3413-3417. https://doi.org/10.1021/acs.jchemed.0c00546
Daniels, L., Goegan, L. D., & Parker, P. C. (2021) The impact of COVID-19 triggered changes to instruction and assessment on university students’ self-reported motivation, engagement and perceptions. Social Psychology of Education. Advanced online publication. https://doi.org/10.1007/s11218-021-09612-3
Daumiller, M., & Janke, S. (2019). The impact of performance goals on cheating depends on how performance is evaluated. AERA Open, 5(4), 2332858419894276. https://doi.org/10.1177/2332858419894276
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