Wieso Fensterkonzerte in der Corona-Krise gegen Einsamkeit helfen
Mittlerweile sind alle in Deutschland davon betroffen – Kontaktsperre, Ausgangsverbot oder Quarantäne. Um die Ausbreitung von Covid-19/Corona zu verlangsamen, sollen Menschen physischen Abstand voneinander halten. Diese Unterbrechung der normalen sozialen Kontakte kann Menschen einsamer machen. Aber was bedeutet es, einsam zu sein, und wie kann man Einsamkeit entgegenwirken?
Menschen sind soziale Wesen (Beckes & Coan, 2011). Damals wie heute signalisiert uns die Anwesenheit anderer Leute Sicherheit und die Verfügbarkeit von mehr Ressourcen (z. B. Nahrung, soziale Unterstützung). Die Abwesenheit von anderen kann hingegen ein Gefühl von Einsamkeit erzeugen: Einsamkeit beschreibt das subjektive Gefühl, dass die eigenen Beziehungen und Kontakte weniger gut oder seltener sind, als man es sich wünscht. Einsamkeit sollte jedoch nicht mit Alleinsein verwechselt werden. Während Einsamkeit per definitionem einen Mangel ausdrückt und negativ empfunden wird, kann das Alleinsein durchaus genossen werden.
Die allermeisten Menschen erleben irgendwann in ihrem Leben einmal Phasen, in denen sie sich nicht richtig zugehörig fühlen, ihnen eine enge vertraute Person fehlt oder sie sich nach einem Partner bzw. einer Partnerin sehnen. Sich phasenweise einsam zu fühlen, ist dementsprechend eine normale menschliche Erfahrung. Das Gefühl von Einsamkeit ist zunächst einmal eine sinnvolle Erscheinung, weil es uns dazu motiviert, wieder den Kontakt und die Nähe anderer Menschen zu suchen und Beziehungen und Partnerschaften aufzubauen und zu stärken (Cacioppo et al., 2015). Besteht Einsamkeit über einen längeren Zeitraum, ist sie aber mit negativen körperlichen und psychischen Konsequenzen wie einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt und Depression verbunden (Beutel et al., 2017; Petitte et al., 2015).
Eine Person erlebt Einsamkeit, wenn sie sich nicht als ausreichend eingebunden erlebt. Dabei kann diese Eingebundenheit auf vier verschiedenen Ebenen vorliegen (Hirsch & Clark, 2018): Sie kann erstens in intimen persönlichen Beziehungen wie einer Partnerschaft oder einer engen Freundschaft erlebt werden, also in solchen, die typischerweise dadurch gekennzeichnet sind, dass man sich gut kennt und sich aufeinander verlassen kann. Zweitens kann Eingebundenheit aber auch in Form von Anerkennung der eigenen Leistungen durch andere erlebt werden. Einer prestigeträchtigen Gruppe anzugehören, kann eine dritte Quelle für das Gefühl der Zugehörigkeit sein. Viertens können angenehme, oberflächliche Kontakte wie freundliche Gespräche mit dem/der Postangestellten Eingebundenheit vermitteln.
Folglich kann sich auch Einsamkeit auf verschiedenen Ebenen entwickeln (De Jong Gierveld & Tilburg, 2006; Hawkley et al., 2005). Der erlebte Mangel einer engen, intimen Beziehung, zum Beispiel zum Partner oder der besten Freundin, wird als emotionale Einsamkeit (auch: intime Einsamkeit) bezeichnet. Ein Mangel an loseren sozialen Kontakten, zum Beispiel zu entfernteren FreundInnen, Bekannten oder KollegInnen, wird auch soziale Einsamkeit (auch: relationale Einsamkeit) genannt, und der wahrgenommene Mangel an Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder zur Gesellschaft wird als kollektive Einsamkeit bezeichnet.
Wie die Corona-Krise unsere Kontakte verändert
Während die Corona-Krise für alleinstehende Menschen aktuell häufig bedeutet, dass sie sehr wenige bis gar keine persönlichen sozialen Interaktionen mehr haben, bedeutet es für andere Menschen, dass sie sehr viel Zeit mit ihren Familienangehörigen oder PartnerInnen verbringen. Beide Situationen stellen zwischenmenschliche Herausforderungen dar. Für allein lebende Menschen bedeutet die Selbstisolation ein erhöhtes Risiko, zu vereinsamen. Für Menschen, die mit anderen Personen in einem Haushalt leben, können Konflikte und der Wunsch nach mehr Alleinsein entstehen. Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen kreative Möglichkeiten entwickelt, um sich an diese herausfordernde Situation anzupassen. Dazu gehören Fensterkonzerte, Video-Chats mit FreundInnen und Familie oder Netflixpartys, bei denen gleichzeitig Filme angesehenen werden, während man per Chat verbunden ist. Jedoch erfordern viele dieser Lösungen ein Mindestmaß an Vertrautheit mit digitalen Medien, was gerade bei älteren Menschen nicht unbedingt gegeben ist. Besonders ältere, allein lebende Menschen haben demnach ein erhöhtes Risiko, in der Corona-Krise zu vereinsamen.
Mehrere Initiativen versuchen besonders für diese Risikogruppen aktuell telefonische Gesprächsangebote mit BeraterInnen, TherapeutInnen, aber auch mit (ehrenamtlichen) Laien in größerem Umfang aufzubauen. Für über 60-Jährige bietet zum Beispiel „Silbernetz" telefonische Gespräche an. Auch der Bundesverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hat eine spezifische Corona-Hotline ins Leben gerufen. Das im Aufbau befindliche Projekt "Mental Mentor" will in Zukunft Gesprächsangebote für Menschen in einer mentalen Krise anbieten.
Aktuelle Studie zur Klärung offener Fragen
Obwohl wir aus der bisherigen psychologischen Forschung schon einiges über soziale Beziehungen, Eingebundenheit und Einsamkeit wissen, stellen sich in der aktuellen Corona-Krise viele neue Fragen. Als eines der ersten psychologischen Forschungsteams in Deutschland führen WissenschaftlerInnen der Ruhr-Universität Bochum und der Humboldt-Universität zu Berlin aktuell eine groß angelegte Online-Studie durch. Das Team interessiert sich besonders für die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise. Das Besondere an dieser Studie ist, dass die Teilnehmenden nicht nur einmalig gefragt werden, wie es ihnen geht, wie sie die aktuelle Situation wahrnehmen etc., sondern sie werden regelmäßig gebeten, über ihren Tag und ihre Woche zu reflektieren. Dabei werden Fragen zum Erleben, Verhalten, Gesundheit, Sorgen, Wohlbefinden und sozialen Kontakten gestellt. Haben Sie Lust, die Studie zu unterstützen? Link: https://covid-19-psych.formr.org/
Quellen
Beckes, L., & Coan, J. A. (2011). Social Baseline Theory: The Role of Social Proximity in Emotion and Economy of Action. Social and Personality Psychology Compass, 5(12), 976–988. https://doi.org/10.1111/j.1751-9004.2011.00400.x
Beutel, M. E., Klein, E. M., Brahler, E., Reiner, I., Junger, C., Michal, M., Wiltink, J., Wild, P. S., Munzel, T., Lackner, K. J., & Tibubos, A. N. (2017). Loneliness in the general population: Prevalence, determinants and relations to mental health. BMC Psychiatry, 17(1), 97. https://doi.org/10.1186/s12888-017-1262-x
Cacioppo, J. T., Cacioppo, S., Capitanio, J. P., & Cole, S. W. (2015). The neuroendocrinology of social isolation. Annu Rev Psychol, 66, 733–767. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-010814-015240
De Jong Gierveld, J., & Tilburg, T. V. (2006). A 6- Item Scale for Overall, Emotional, and Social Loneliness: Confirmatory Tests on Survey Data. Research on Aging, 28(5), 582–598. https://doi.org/10.1177/0164027506289723
Hawkley, L. C., Browne, M. W., & Cacioppo, J. T. (2005). How Can I Connect With Thee?: Let Me Count the Ways. Psychological Science, 16(10), 798–804. https://doi.org/10.1111/j.1467-9280.2005.01617.x
Hirsch, J. L., & Clark, M. S. (2018). Multiple Paths to Belonging That We Should Study Together. Perspectives on Psychological Science, 14(2), 238–255. https://doi.org/10.1177/1745691618803629
Petitte, T., Mallow, J., Barnes, E., Petrone, A., Barr, T., & Theeke, L. (2015). A Systematic Review of Loneliness and Common Chronic Physical Conditions in Adults. The Open Psychology Journal, 8(Suppl 2), 113–132. https://doi.org/10.2174/1874350101508010113
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