Narzisstisch, Borderline oder doch dependent – Was bin ich und wenn ja, warum?

Wann hört normales Verhalten auf, was sind „psychologische Auffälligkeiten“ und wann beginnt eine tatsächliche psychische Störung? Diese Fragen haben vor allem im Rahmen von so  tiefgreifenden  Konstrukten  wie  Persönlichkeitsstörungen  eine  sehr  hohe  Relevanz  und beschäftigen  viele  Menschen.  Auch  unter  Psycholog/-innen  herrscht  in  einigen  Kreisen Unsicherheit.  Was  bedeutet  das  aber  für  Betroffene,  Angehörige  oder  diejenigen,  die vielleicht nur vermutet zu den Betroffenen zu gehören?

Stellen Sie sich vor, ein/-e Kliniker/-in eröffnet Ihnen, Ihre Persönlichkeit (Pks) sei gestört? Was bedeutet es für ein Individuum, so eine tiefgreifende Information über das, was es als Person ausmacht, zu  bekommen? Muss  man sich nicht selbst und den größten Teil der eigenen Entwicklungsgeschichte infrage stellen, zumindest negativ bewerten, wenn einen eine solche Aussage trifft? 

Ich denke, nicht immer, denn diejenigen, auf die die Diagnose tatsächlich zutrifft, leiden ohnehin seit Langem unter deren Konsequenzen und in diesem Fall bringt es unter großer Wahrscheinlichkeit eher eine Erleichterung mit sich, endlich einordnen zu können, was einem das Zusammenleben mit anderen häufig erschwert. Nicht zu sprechen von der Möglichkeit therapeutischer Intervention und Veränderungsmöglichkeiten, die allerdings bei tatsächlich vorliegenden Pks zumindest langwieriger sind als bei anderen Störungen. Die aufgeworfenen Fragen deuten aber auf die besondere Relevanz einer ausführlichen und sauberen Diagnostik hin, die eine absolute Voraussetzung bei der Vergabe von Pks-Diagnosen ist. Denn wenn in diesem Falle eine Diagnose unbedacht vergeben wird, kann dies außerordentlich negative Konsequenzen für die Betroffenen (z. B. aufgrund von Stigmatisierung) und ihr Selbstbild haben. 

Klinische  Psycholog/-innen  und  psychologische  Psychotherapeut/-innen  sind  in unterschiedlichen Verfahren der Diagnostik geschult. Nun stehen sie aber bei Pks vor der besonderen Herausforderung,  dass  die  Abgrenzung  zur  Normalität  mangels  brauchbarer Kriterien erschwert ist. Des Weiteren besteht bei den Pks eine nicht zu vernachlässigende Kriterienüberlappung  zwischen  unterschiedlichen  PkS,  zu  der  letztendlich  eine  hohe Komorbidität der PkS untereinander und mit anderen psychischen Störungen hinzukommt. Die Verunsicherung der Diagnostik bei Pks zeigt sich auch im kürzlich neu aufgelegten DSM-5, dem Diagnoserichtwerk der American Psychiatric Association. Hier wurden die Pks gleich in zwei Sektionen aufgenommen – die eine weiterhin kategorial, die andere dimensional.  

Was heißt das nun für Diagnostiker/-innen und Betroffene? Welchen Handlungsrichtlinien sollte  gefolgt  werden,  um  Unsicherheit  zu  vermeiden?  Zunächst  einmal  stellen  Pks  per definitionem „tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster [handelt], die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen“ (WHO, 2011, S. 274) dar. Allein diese Definition legt nahe, dass die Diagnostik nicht an einem Termin erfolgen kann, sondern vielmehr als Prozess gestaltet werden muss (Bergmann-Warnecke & Lutz, 2014). Des Weiteren dürfen Pks-Diagnosen nach Fiedler (2007) nur vergeben werden, wenn a) die betreffende Person unter ihrer Persönlichkeit leidet und/oder b) wenn sie das Risiko oder die Verschlechterung einer psychischen Störung beinhalten oder eindeutig mit diesen in einem Zusammenhang stehen und/oder c) wenn das psychosoziale Funktionsniveau der betroffenen Person aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenarten so erheblich eingeschränkt ist, dass existentielle Verpflichtungen nicht mehr erfüllt werden können, was zumeist heißt, dass ein oder mehrere Konflikte mit Ethik oder Gesetz aufgetreten sind.

Normales  Verhalten  und  Erleben  von  gestörtem  abzugrenzen,  sollte  nach  diesen Handlungsrichtlinien  nicht  schwer  sein.  Sicherlich bedarf  es  allerdings  bei  Pks  in  der Abgrenzung von Auffälligkeiten zu Störungen vor allem Zeit – Zeit, die es sich zu investieren für alle Beteiligten lohnt!

Quellen:

Bergmann-Warnecke, K. & Lutz, W. (2014). Diagnostik bei Persönlichkeitsstörungen – Ein Vorgehensvorschlag. Psychotherapie im Dialog, 3, 31-35.

Fiedler, P. (2007). Persönlichkeitsstörungen. 6. Auflage. Weinheim: Beltz.

WHO – Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.). (2011). Deutsche Ausgabe der internationalen      Klassifikation  der  Krankheiten  der  WHO:  ICD  (International  Classification  of      Diseases),    8. Revision, Kapitel V. Bern: Hans Huber.