Warum ein 42-jähriger Mann 20 Jahre lang nicht aufhören konnte, ein Karnevalslied zu singen
Karneval, das ist vor allem die Zeit der Lieder. Von „Drink doch ene mit“ über „Echte Fründe“ bis hin zu „Viva Colonia“ vermitteln Karnevalslieder ein Gefühl der Unbeschwertheit und des ausgelassenen Gemeinsinns. Millionen von Menschen in Deutschland gröhlen diese Lieder Jahr für Jahr mit, in den Karnevalshochburgen in Köln und Düsseldorf, auf Faschingsveranstaltungen in Sachsen und Brandenburg und während der „Fassenacht“ in Mainz. Traditioneller Beginn der jährlichen Karnevalssaison ist der 11. November um 11.11 Uhr, am Aschermittwoch vor Ostern ist der Karneval offiziell beendet. Was aber, wenn der Karneval im Kopf kein Ende findet?
So erging es Herrn E., der 20 Jahre lang zur Verzweiflung seiner Frau nicht aufhören konnte, ein und dasselbe Karnevalslied zu singen, immer wieder, fast ohne Unterbrechung. Was war passiert? Zunächst führte Herr E. ein normales Leben. Er war Vorsitzender einer Karnevalsvereinigung und mochte Karnevalslieder. Allerdings nicht so gern, dass er sie immer wieder hätte singen mögen. Im Februar 1992 dann passierte es. Der damals 42-Jährige wurde bewusstlos in seinem Auto aufgefunden. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten. Herr E. hatte Glück und konnte von den Ärzt*innen reanimiert werden, er überlebte den Zwischenfall knapp. Nach dem Unfall war Herr. E. verändert. Er hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich Dinge zu merken, redete wenig und zeigte seltsames Sozialverhalten. Zudem sang er ständig ein und dasselbe Karnevalslied.
Herr E. unterzog sich physischer und kognitiver Rehabilitationstherapie. Einige seiner Auffälligkeiten verschwanden, das Singen des Karnevalsliedes aber blieb. Nach 16 Jahren wandte sich seine Frau, einem Nervenzusammenbruch nahe, an eine Klinik. Sie konnte das Karnevalslied nicht mehr ertragen. Die Ärzt*innen besuchten Herrn E. und seine Frau zu Hause. Kaum traten sie ein, hörten sie das wiederholte und überraschend akkurate Singen ein und desselben Karnevalsliedes von Herrn E.. Wenn sie ihn baten, den Gesang für einen Moment zu unterbrechen, sagte dieser, dass ihm das Angst mache und er sich sehr unwohl fühle. Auf der anderen Seite wünschte sich Herr E., von dem Karnevalsgesang erlöst zu werden.
Die Ärzt*innen rätselten. War der Patient vielleicht autistisch? Auch autistische Patient*innen zeigen oft wiederholt Verhaltensweisen, die sie nicht stoppen können. Die Ärzt*innen schlossen diese Möglichkeit aus. Herr E. hatte sich vor dem Herzinfarkt völlig normal verhalten und hatte keine Anzeichen einer autistischen Störung gezeigt. Es musste an etwas anderem liegen. Nach eingehender Analyse und dem Abwägen verschiedener Möglichkeiten kamen sie zu dem Schluss, dass es sich bei Herrn E. um eine seltene Ausprägung einer Zwangsstörung handeln müsse, ausgelöst durch die Gehirnveränderungen nach dem Herzinfarkt. Patient*innen mit Zwangsstörungen führen unnötige Handlungen immer und immer wieder aus, auch wenn dies ihre Arbeit oder ihre Beziehung zu anderen Menschen oft stark belastet. Solche Handlungen können das Arrangieren von Gegenständen sein, Händewaschen oder auch das wiederholte Abschließen der Haustür. Oder eben das Singen von Karnevalsliedern, obwohl dies eher selten berichtet wird. Die Ärzt*innen verschrieben Clomipramin, ein Medikament, das auch bei Zwangsstörungen zum Einsatz kommt, und hatten Erfolg: Das Singen des Karnevalsliedes ging nach der Einnahme des Medikamentes deutlich zurück.
Beim Karneval scheint es sich also ähnlich zu verhalten wie bei den meisten Hobbies: Genuss in Maßen statt in Massen.
Referenzen
Polak, A. R., van der Paardt, J. W., Figeem, M., Vulink, N., de Koning, P., Olff, M., & Denys, D. (2012) Compulsive carnival song whistling following cardiac arrest: a case study. BMC Psychiatry, 12(75), 1-4.
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