Hungern aus Angst
Sie ist die psychische Krankheit mit der höchsten Mortalitätsrate. Etwa 15 Prozent der an Magersucht erkrankten PatientInnen erliegen den körperlichen Folgen oder setzen ihrem Leiden selbst ein Ende. Diese gefährliche psychische Erkrankung besser zu verstehen und zu heilen, ist daher eine der dringlichsten Aufgaben klinisch-psychologischer Forschung.
Ruhe, Wärme und regelmäßige nahrhafte Speisen - so ähnlich beschrieb Sir William Gull, einer der ersten Mediziner, der sich mit der Anorexia Nervosa, der "nervenbedingten Appetitlosigkeit", beschäftigte, seine Heilungsversuche. Zwar hat sich seitdem viel getan, dennoch können die bestehenden Therapieformen bis zu 60 Prozent der PatientInnen nicht zu einer vollständigen Gesundung verhelfen. Viele beginnen ihre Therapie mit geringer Heilungsmotivation. Zudem sind die Abbrecherquoten hoch.
Ein Faktor, der Forschenden in ihrem Gebaren, bessere Methoden zu entwickeln, Kopfzerbrechen und Hoffnung zugleich bereitet, ist das komplexe Erscheinungsbild der Anorexia Nervosa, die nur selten isoliert, ohne weitere psychologische Pathologien, auftritt und deren Behandlung daher ebenso vielschichtig und differenziert geplant werden muss.
Die Überlappung mit anderen Krankheitsbildern bietet jedoch auch Ansatzpunkte, Motive und kognitive Grundlagen der Krankheit besser zu verstehen. Besonders häufig scheint die Magersucht etwa in Kombination mit einer Form der Angststörung aufzutreten. Studien konnten zeigen, dass sich viele spätere PatientInnen schon im Kindesalter besonders ängstlich, unruhig und perfektionistisch verhalten haben. Daraus resultierte die Vermutung der Forschenden, dass verstärktes Angstlernen einerseits und eine behinderte Löschung andererseits eine zentrale Rolle in der Entwicklung und im nicht selten chronischen Verlauf der Krankheit spielen. Eine anfängliche Diät oder auch ein unfreiwilliger Gewichtsverlust mündeten schnell in zwanghafte Kalorienreduktion. Die übergeordnete Angst vor Gewichtszunahme könne dazu führen, dass die PatientInnen Reize wie geteilte Mahlzeiten, kalorienreiche Nahrungsmittel oder den Gang auf die Waage regelrecht fürchten, weil sie so stark mit dem beängstigenden Gedanken an eine Gewichtszunahme verbunden seien, so die ForscherInnen. Vermeidungsverhalten oder stringente Verhaltensmuster könnten sich mit der Zeit in starke Gewohnheiten verwandeln. Dies könne erklären, warum es Betroffenen, auch wenn die negativen Konsequenzen der Krankheit offensichtlicher werden, schwerfällt, ihr Verhalten zu verändern.
Auch in der Therapie werden Ängste als Motivator des Hungerns berücksichtigt. PatientInnen lernen etwa, sich langsam wieder an verschiedenste, auch kalorienreiche Nahrungsmittel heranzutrauen.
Welche kognitiven und hormonellen Mechanismen dem Zusammenhang zwischen Angststörungen und der Anorexia Nervosa zugrunde liegen, ist noch nicht abschließend geklärt, und auch die Frage, welche weiteren Faktoren beeinflussen, ob ein Kind mit einer ängstlichen Persönlichkeit tatsächlich erkrankt, wollen ForscherInnen in Zukunft genauer untersuchen und verstehen.
Quellen:
Guarda, A.S., Schreyer, C.C., Boersma, G.J., Tamashiro, K.L., Moran, T.H. (2015). Anorexia nervosa as a motivated behavior: Relevance of anxiety, stress, fear and learning, Physiology & Behavior (152), 466 - 472.
Zipfel, S., Giel, K. E., Bulik, C. M., Hay, P., & Schmidt, U. (2015). Anorexia nervosa: aetiology, assessment, and treatment. The Lancet Psychiatry, 2(12), 1099-1111.
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