Verbreitete Gerichtssaal-Mythen über das Gedächtnis von Augenzeugen

Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel Seeing and Believing: Common Courtroom Myths in Eyewitness Memory, der 2015 in englischer Sprache in der englischsprachigen Ausgabe von In-Mind veröffentlicht wurde (11/2015, Ausgabe 28).

Link zum Originalartikel: http://www.in-mind.org/article/seeing-and-believing-common-courtroom-myths-in-eyewitness-memory

Unser allgemeines Verständnis darüber, wie das Gedächtnis von AugenzeugInnen zu bewerten ist, stimmt manchmal mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein – es weicht jedoch auch manchmal gefährlich weit von diesen ab. Dieser Artikel räumt mit Augenzeugen-Mythen, wie sie in Gerichtssälen, Nachrichten und dem Bewusstsein der Öffentlichkeit vorkommen, auf.

Es geschah an einem Sommerabend im Jahre 1982 in einem kleinen Dorf in den Südstaaten der USA. Die 24-jährige Susan1 war gerade auf dem Weg nach Hause, als sie von einem Mann gepackt und mit einer Waffe bedroht wurde. Er zwang sie, mit ihm in den Wald zu gehen, wo er sie über mehrere Stunden brutal verprügelte und vergewaltigte. Das junge, weiße Opfer nannte den ErmittlerInnen wichtige Details zum Täter (ein schwarzer Mann mit kurzem Haar und einem schmalen Schnurrbart). In einer späteren Gegenüberstellung mit einer Reihe von Bildern zeigte sie sich sichtlich verstört und identifizierte sie den Mann, den die Polizei der Tat verdächtigte. Susans gerichtliche Aussage zu den traumatischen Erfahrungen ihrer gewaltsamen Vergewaltigung und ihre sichere Identifizierung überzeugten das Gericht; der Mann wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Leider hatte sie einen Fehler gemacht und einen Unschuldigen identifiziert. Dieser Fehler, später aufgedeckt durch DNA-Nachweise, trug dazu bei, dass Marvin Anderson 15 Jahre lang inhaftiert war (Gould, 2007).

Dieser Fall demonstriert verschiedene der Probleme, die im Zusammenhang mit Augenzeugenberichten auftreten können. ErmittlerInnen und RichterInnen bewegen sich hier im Spannungsfeld zwischen dem Vertrauen in Augenzeugenberichte und den gefährlichen Konsequenzen menschlichen Irrtums. In den USA gibt es bis heute 330 DNA-Entlastungsfälle (Anmerkung: diese Zahlen beziehen sich auf den Zeitpunkt der Erstveröffentlichung 2015; im Mai 2018 waren es bereits 356 Fälle) von zu Unrecht Verurteilten, wobei 235 dieser Fälle (72 %) durch eine fehlerhafte Identifizierung durch AugenzeugInnen (mit-)verursacht waren (Innocence Project, 2015; die Entstehung und Folgen von Justizirrtümern in Deutschland werden hier behandelt: Schell-Leugers & Schneider, 2018, in dieser Ausgabe). Obwohl Fernsehsendungen wie CSI einen anderen Eindruck vermitteln, gibt es nur in wenigen Kriminalfällen „harte“ Beweise, also Sachbeweise. So kommt es, dass die meisten Personen, die durch DNA entlastet werden, für Mord oder sexuelle Übergriffe verurteilt waren – also für Straftaten, die prüfbare biologische Spuren hinterlassen (Wells, Memon & Penrod, 2006). Doch auch in den wenigen Fällen, in denen die Polizei Beweise wie Fingerabdrücke oder DNA-Spuren erfolgreich an eine verdächtige Person koppeln kann, sind Aussagen von AugenzeugInnen erforderlich, um dieses Beweismaterial mit der Tat verknüpfen zu können. Es stellt sich dann die Frage, ob sich die Fingerabdrücke von X am Tatort eines Banküberfalls befinden, weil er ein regelmäßiger Kunde ist oder weil er am Verbrechen beteiligt war. Anders ausgedrückt: Sachbeweise stehen nicht für sich; sie erzählen nicht die ganze Geschichte; sie müssen interpretiert werden. Hierbei spielen ZeugInnen eine zentrale Rolle.

Es fällt zudem auf, dass Augenzeugenbeweise in der Öffentlichkeit und von JuristInnen zuweilen als eines der besten Instrumente des Rechtssystems gesehen, jedoch auch als minderwertig zurückgewiesen werden. Bild: Skitterphoto via Pixabay (https://pixabay.com/de/auge-gr%C3%BCne-augen-hautnah-makro-1132531/, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Bild: Skitterphoto via Pixabay (https://pixabay.com/de/auge-gr%C3%BCne-augen-hautnah-makro-1132531/, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Nach der Festnahme eines 19-jährigen mutmaßlichen Täters einer tödlichen Messerattacke lobte ein kalifornischer Polizeichef die Augenzeugenberichte: “Ohne die Unterstützung unserer Kollegen bei der Strafverfolgung und der Mitarbeit so vieler Zeugen hätten wir dieses tragische Verbrechen nicht so schnell aufklären können.“ (McMenamin, 2015). Ein schottisches Gericht vertrat dagegen die Auffassung, dass „das Risiko eines Justizirrtums altbekannt ist“, wenn die Strafverfolgung von Augenzeugenidentifizierungen abhängt (Gage v. HM Advocate, 2011).

Scheinbar handelt es sich bei Augenzeugenberichten einerseits um ein Beweismittel, dem RechtexpertInnen, JournalistInnen und die Öffentlichkeit vertrauen, das jedoch andererseits als unbrauchbar angesehen wird. Unterdessen sind weder Laien noch Rechtsgelehrte dazu in der Lage, zuverlässige von unzuverlässigen Augenzeugenbeweisen zu unterscheiden, da sie die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse hierzu häufig nicht kennen. Fehlannahmen über das Augenzeugengedächtnis stehen im Zentrum dieses Konflikts. Diese können Fehler mit weitreichenden Konsequenzen verursachen, nämlich falsche Verurteilungen Unschuldiger einerseits und die Straffreiheit Schuldiger andererseits. Die Auseinandersetzung mit solchen Fehlannahmen und Mythen kann dazu beitragen, eine nuanciertere Bewertung von Augenzeugenbeweisen zu ermöglichen.

Mythos #1: Alle AugenzeugInnen sind unzuverlässig

Diese Meinung wird häufig in Medienberichten zum Ausdruck gebracht, die die Tücken von Augenzeugenberichten vor Gericht anhand von aufsehenerregenden Fehlurteilen schildern. Es wäre jedoch wenig zielführend, alle AugenzeugInnen als unzuverlässig abzuschreiben. Fälle werden häufig mit Hilfe von AugenzeugInnen gelöst, sowohl durch zielführende Hinweise als auch die Identifizierung von Verdächtigen. So zeigte die Überprüfung der Faktoren, die zur Klärung von 189 ungeklärten, wiederaufgenommenen Fällen des Polizeireviers des District of Columbia (USA) beitrugen, dass die Mehrheit der Fälle aufgrund neuer AugenzeugInnen gelöst werden konnte (63 %). DNA-Analysen trugen nur in 3 % der Fälle dazu bei (Davis, Jensen, Burgette & Burnett, 2014).
Die meisten AugenzeugInnen berichten über Verbrechen, bei denen ihnen die TäterInnen bekannt sind – so wie die ca. 90 % der weiblichen Opfer von Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch in Großbritannien. Diese gaben an, den Täter bereits vor dem Übergriff gekannt zu haben (Ministry of Justice, Home Office & the Office for National Statistics, 2013). Psychologische Experimente kreieren gezielt suboptimale Bedingungen für das Abrufen von Erinnerungen und die Identifizierung durch AugenzeugInnen und zeigen damit, wie schlecht unser Urteil in bestimmten Situationen sein kann. In solchen Situationen – z. B. bei unbekannten AngreiferInnen, schlechten Lichtverhältnissen oder schlecht konzipierten Gegenüberstellungen – ist das Risiko einer Falschidentifizierung erhöht. Das heißt aber nicht, dass AugenzeugInnen generell falsch liegen; es bedeutet, dass AugenzeugInnen in bestimmten Situationen Fehler begehen können, die jedem anderen unter denselben Bedingungen auch unterlaufen könnten.

Obwohl Susan mit ihrer Identifizierung falsch lag, ist sie ein Beispiel für eine scheinbar glaubwürdige Zeugin. Sie gab eine genaue Beschreibung des Angreifers, lieferte wichtige Informationen, wie zum Beispiel die Behauptung des Angreifers, eine hellhäutige Freundin zu haben, und erkannte auch sein silbernes Fahrrad. Ein Ortsansässiger mit einer Vorgeschichte von tätlichen Übergriffen stimmte mit der Beschreibung überein und gestand die Vergewaltigung später. Susan war keine „schlechte“ Zeugin, sondern hatte gute Absichten; wollte bei den Ermittlungen helfen. Dabei vertraute sie verständlicherweise darauf, dass die PolizeibeamtInnen sie durch den Untersuchungsprozess leiten würden. Leider wurde ihr eine unfaire Gegenüberstellung vorgelegt: Andersons Fahndungsfoto war nämlich das einzige Farbfoto in einer Reihe von schwarz-weiß Bildern. Zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens war Susan bereits einer Vielzahl von Faktoren ausgesetzt, die sich nachweislich negativ auf das Augenzeugengedächtnis auswirken. Dementsprechend lagen besonders schwierige Bedingungen für die Identifizierung vor. Dies wirkte sich auch auf Susans Fähigkeit aus, während der Gerichtsverhandlung die subjektive Sicherheit in ihre Identifizierungsentscheidung angemessen einzuschätzen.

Das Augenzeugengedächtnis ist verformbar, wobei die Gedächtnisrekonstruktion von einem komplexen Zusammenspiel persönlicher, situativer und sozialer Faktoren abhängt (z. B. wie groß der Abstand zwischen ZeugIn und TäterIn war, von der individuellen Gedächtnisleistung, von Befragungstechniken). Für diejenigen, die in den Strafprozess involviert sind, ist es daher unabdingbar, den Einfluss dieses Faktoren in jedem Fall abzuwägen. Den Einsatz von AugenzeugInnen blind zu akzeptieren oder kategorisch abzulehnen wird der Materie nicht gerecht.

Mythos #2 Jede/-r weiß, wann AugenzeugInnen unzuverlässig sind

Viele der medienwirksamen Entlastungsfälle resultieren aus Straftaten, die zu einer Zeit begangen wurden, in der DNA-Tests unbekannt waren. Inzwischen haben Fälle wie der Andersons die Aufmerksamkeit der Medien auf Justizirrtümer und die möglichen äußeren Einflüsse auf Augenzeugenberichte gelenkt. Zudem können wir inzwischen auf Jahrzehnte psychologischer Forschung zum Augenzeugengedächtnis zurückgreifen. Einige europäische Länder und Staaten der USA haben Identifizierungsverfahren eingeführt, die sich an wissenschaftlichen Empfehlungen orientieren.

Gleichwohl stellen unfaire Gegenüberstellungen und falsche Identifizierungen nach wie vor ein Risiko dar. Ein typisches Beispiel ist das von Henry Osagiede, eines gebürtigen Nigerianers, der 2008 in Spanien wegen Überfalls und sexueller Belästigung verurteilt wurde (Epifanio v. Madrid, 2009). Beide Opfer beschrieben den Täter als schwarzen Mann und identifizierten Osagiede bei einer Gegenüberstellung mit hoher subjektiver Sicherheit. Basierend auf diesen Beweisen wurde Osagiede zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der oberste spanische Gerichtshof hob das Urteil ein Jahr später auf, als festgestellt wurde, dass der Verurteilte aus einer unfairen Gegenüberstellung identifiziert wurde: Zwischen vier Lateinamerikanern stehend war Osagiede der einzige schwarze Mann in der Gegenüberstellung – und damit auch der einzige, auf den die Täterbeschreibung passte.

In Laboruntersuchungen zeigen PsychologInnen, wie scheinbar harmlose Unterschiede in der Konstruktion einer Gegenüberstellung Einfluss darauf haben können, ob jemand den oder die Verdächtige/-n identifiziert – unabhängig davon, ob es sich bei diesem/-er um den Täter oder die Täterin handelt oder nicht. Die Fairness einer Gegenüberstellung kann durch das Urteil von Personen, denen die Identität des/-r Täters/-in unbekannt ist, beurteilt werden. Diese bekommen eine Täterbeschreibung und müssen dann die Person aus der Gegenüberstellung wählen, auf welche die Beschreibung am besten zutrifft (Doob & Kirshenbaum, 1973). Bei einer fair konstruierten Gegenüberstellung sollte sich die Auswahl gleichmäßig auf die Personen in der Gegenüberstellung verteilen. Diese Art von Untersuchung wurde von einer Forschungsgruppe (Eyewitness Ohne Hintergrundinformationen oder die Dokumentation der Gegenüberstellung selbst (Fotos, Videoaufnahmen) kann die Zuverlässigkeit einer Identifizierungsentscheidung nicht beurteilt werden. Bild: Mike Mozart via flickr: (https://www.flickr.com/photos/jeepersmedia/10428716214/in/photolist-gTxTZY-b4yZek-21PhScY-58hZ5H-87g5BW-jpVpW-iwB2YE-L4Li4-c4wSBf-bmhpkH-iKa4z-iwB7Sp-dFjZvr-9Dmneh-4PWed8-89w6DA-syKEK-SX7Bvs-c4wL15-7rSB2w-765vEj-syKgn-7rSi8b-bCqhR4-c4wU9Y-Tiu4Bq-bCqiAv-SXg5X5-9VekKT-9VejJH-bCqhHt-9Veo2M-9Vh9oG-bCqhWH-9Vhceb-bpvniA-bCqi8t-ay7s5R-9Vh1Jo-bCqide-bpvnCL-bmKeHQ-Tiu5uY-9VhbtN-Tiu51S-9Vhc17-c4wUX9-9Vef9H-9Vh1wy-9Veatv, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)Ohne Hintergrundinformationen oder die Dokumentation der Gegenüberstellung selbst (Fotos, Videoaufnahmen) kann die Zuverlässigkeit einer Identifizierungsentscheidung nicht beurteilt werden. Bild: Mike Mozart via flickr: (https://www.flickr.com/photos/jeepersmedia/10428716214/in/photolist-gTxTZY-b4yZek-21PhScY-58hZ5H-87g5BW-jpVpW-iwB2YE-L4Li4-c4wSBf-bmhpkH-iKa4z-iwB7Sp-dFjZvr-9Dmneh-4PWed8-89w6DA-syKEK-SX7Bvs-c4wL15-7rSB2w-765vEj-syKgn-7rSi8b-bCqhR4-c4wU9Y-Tiu4Bq-bCqiAv-SXg5X5-9VekKT-9VejJH-bCqhHt-9Veo2M-9Vh9oG-bCqhWH-9Vhceb-bpvniA-bCqi8t-ay7s5R-9Vh1Jo-bCqide-bpvnCL-bmKeHQ-Tiu5uY-9VhbtN-Tiu51S-9Vhc17-c4wUX9-9Vef9H-9Vh1wy-9Veatv, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)Identification Research Laboratory) an der Universität von Texas (El Paso) durchgeführt. Hierbei wurde in der Gegenüberstellung nach einem Täter gesucht, der wie folgt beschrieben wurde: Afro-Amerikaner, männlicher Teenager mit langem, geflochtenen Haar. Obwohl die Gegenüberstellung aus sechs afro-amerikanischen Teenagern bestand, konnten 95 % der unwissenden Personen den Tatverdächtigen ‚erkennen‘ – denn nur er hatte geflochtenes Haar. Eine korrekte Identifizierung zeigt in diesem Fall lediglich, dass AugenzeugInnen die wahrscheinlichste Alternative leicht erkennen können. Leider sehen RichterInnen und Geschworene oftmals nur das Endergebnis einer polizeilichen Gegenüberstellung. Ohne Hintergrundinformationen oder die Dokumentation der Gegenüberstellung selbst (Fotos oder Videoaufnahmen), kann die Zuverlässigkeit einer Identifizierungsentscheidung nicht beurteilt werden. (Informationen darüber, worauf Sie achten müssen, wenn Sie einmal Zeuge werden und eine Gegenüberstellung vorgelegt bekommen, finden Sie diesem In-Mind Artikel von Sauerland und Krix, 2017).

In Fällen wie dem von Osagiede ist es offensichtlich, dass wichtige Einflussfaktoren, die die Identifizierungsaussage beeinflussen können, nicht berücksichtigt wurden. Noch beunruhigender ist, wenn solche Einflussfaktoren den RichterInnen oder Geschworenen nicht mitgeteilt werden oder diese im Gerichtsurteil nicht berücksichtigt werden. Vielleicht stimmt es ja, dass „jede/-r weiß“, dass AugenzeugInnen falsch liegen können. Im polizeilichen und gerichtlichen Entscheidungsprozess kann dieses Wissen jedoch leicht in Vergessenheit geraten.

Mythos #3 Konstanz ist das Gütesiegel von verlässlichen AugenzeugInnen

Bei Ermittlungen und im Gerichtssaal gilt Konstanz über mehrere Augenzeugenberichte hinweg als unverzichtbares Instrument zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen. PolizeibeamtInnen misstrauen ZeugInnen, wenn sich deren Aussagen, die bei verschiedenen Vernehmungen gemacht wurden, voneinander unterscheiden (Krix, Sauerland, Lorei & Rispens, 2015). AnwältInnen nutzen mangelnde Konstanz zur Diskreditierung von ZeugInnen (Fisher, Brewer & Mitchell, 2009). In den USA werden die Geschworenen sogar dazu angehalten, die Glaubwürdigkeit von AugenzeugInnen anhand der Konstanz ihrer Aussagen zu beurteilen. Eine gewisse Variation ist jedoch unumgänglich, wenn wir uns auf unser Gedächtnis verlassen. Sie ist also nicht zwangsläufig ein Zeichen für Betrug oder Mangelnde Zuverlässigkeit.

Im Frühjahr 2011 musste die 6-jährige Vicky1 den Mord an ihrer Mutter miterleben (Brackmann, Otgaar, Sauerland & Jelicic, 2015). Als die Polizei, alarmiert durch einen Notruf der Nachbarn, am Tatort ankam, öffnete Vicky den BeamtInnen die Tür und äußerte spontan, dass ihr Vater „es“ getan habe. Sie wurde noch am selben Tag polizeilich angehört und beschuldigte erneut ihren Vater. Zwei Monate später wurde sie wiederum angehört. Wieder nannte sie ihren Vater als Täter, und lieferte gleichzeitig neue Details zum Tathergang und zur Tatwaffe, einem Messer. Da der Vater die Tat bestritt, wurde Vicky zur Hauptzeugin.

Man stelle sich nun vor, dass Vicky von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen wird. Basierend auf der Auffassung, dass inkonstante Aussagen mit einem Mangel an Glaubwürdigkeit einhergehen, könnten AnwältInnen die zusätzlich berichteten Details gegen Vicky verwenden. Man könnte argumentieren, dass Vicky unzuverlässig sei, die zusätzlichen Details aus einer dritten Quelle an sie herangetragen wurden, oder dass Es ist nicht unüblich, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Informationen erinnert werden.Bild: 12019 via Pixabay (https://pixabay.com/de/gerichtssaal-b%C3%A4nke-sitze-gesetz-898931/, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Es ist nicht unüblich, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Informationen erinnert werden.Bild: 12019 via Pixabay (https://pixabay.com/de/gerichtssaal-b%C3%A4nke-sitze-gesetz-898931/, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)sie die ganze Geschichte erfunden habe, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten. Wenn man allerdings mehrmals von einem bestimmten Ereignis berichtet - so wie es bei AugenzeugInnen der Fall ist – ist es normal, dass man zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Informationen oder Details erinnert.

Mit inkonstanten Aussagen werden drei verschiedene Situationen beschrieben: a) die Beschreibung von bestimmten Details über Augenzeugenberichte hinweg verändert sich (Widerspruch), b) die Beschreibung bestimmter Details fehlt in späteren Augenzeugenberichten (vergessen oder weggelassen), oder c) die Beschreibung bestimmter Details erfolgt erst zu einem späteren Zeitpunkt; nicht bei der ersten Vernehmung (reminiszent). Allgemein werden inkonstante Details als ein Zeichen von Unzuverlässigkeit gesehen. Tatsächlich sind reminiszente und vergessene Details jedoch fast genauso häufig richtig wie konstante (Krix et al., 2015; Oeberst, 2012). Variationen über mehrere Aussagen hinweg stehen zudem nicht im Zusammenhang mit der Richtigkeit der Gesamtaussage (Smeets, Candel & Merckelbach, 2004).

Variationen oder Unstimmigkeiten beim Erinnern von Informationen über mehrere Vernehmungen hinweg können durch unterschiedliche Faktoren zustande kommen. Dazu gehört beispielsweise, ob sich die gestellten Fragen in der ersten und zweiten Vernehmung voneinander unterscheiden (Fisher et al., 2009) oder ob die gleichen Fragen mehrmals gestellt werden (z. B. Erdelyi & Becker, 1974). Im Gerichtssaal mag Konstanz hochgeschätzt sein. Werden ZeugInnen aber aufgrund inkonstanter Details nicht berücksichtigt, ignoriert man damit natürliche Variationen, die beim Abrufen von Erinnerungen regelmäßig vorkommen.

Mythos #4 Je mehr, desto besser! Wenn mehrere ZeugInnen dasselbe berichten, dann muss es stimmen

Kirk Bloodsworth war der erste Mann, der in den USA zum Tode verurteilt und später freigesprochen wurde. Er wurde 1984 für die Vergewaltigung und den Mord eines Kindes verurteilt. Die Verurteilung basierte auf den Aussagen von fünf AugenzeugInnen (Junkin, 2004). Auch der gebürtige Nigerianer Osagiede wurde durch die Identifizierungsaussage von zwei Opfern belastet. Beide Fälle basierten ausschließlich auf den Aussagen von mehreren ZeugInnen, die sich ihrer Identifizierungen absolut sicher waren. Und doch mussten die Urteile später aufgehoben werden, was zumindest teilweise den unzuverlässigen Identifizierungen geschuldet war.

Das Vertrauen in die Aussagen von Augenzeugen steigt, wenn deren Berichte oder Identifizierungen von mehreren AugenzeugInnen bestätigt werden. Das Gedächtnis einer einzelnen Person mag ja fehlerhaft sein, aber würden fünf ZeugInnen wirklich dasselbe berichten, wenn es unwahr wäre? Übereinstimmende Berichte mehrerer AugenzeugInnen sind jedoch kein Garant für deren Richtigkeit. So zeigte eine Übersicht der Protokolle von 190 später freigesprochenen Personen, dass 36 % der zu Unrecht Verurteilten von mehreren AugenzeugInnen identifiziert wurden (Garrett, 2011). Das Gedächtnis von AugenzeugInnen ist anfällig für äußere Einflüsse, ganz egal wie viele ZeugInnen es in einem Fall auch geben mag. Im Fall Bloodsworth hatten zwei Jungen beobachtet, wie der Täter mit dem Opfer davonging. Einer der beiden identifizierte Bloodsworth sofort bei der ersten polizeilichen Gegenüberstellung. Der zweite Junge identifizierte jedoch zunächst einen anderen Mann. Zwei Wochen später meldete sich die Mutter des Jungen und gab an, dass dieser Angst gehabt habe, Bloodsworth als den Täter zu identifizieren. Andere ZeugInnen hatten Bloodsworth unabhängig voneinander noch vor der Gegenüberstellung gesehen, nämlich als er am Vorabend in Handschellen in den Nachrichten gezeigt wurde. Die fünf ZeugInnen kamen auf unterschiedliche Weise zu dem Schluss, dass es sich Bloodsworth um den Täter handelte, und es gab keine Anzeichen für eine gegenseitige Beeinflussung. Dennoch könnten sie alle durch äußere Faktoren in ihrer Entscheidung beeinflusst worden sein, wodurch sie letztendlich alle (fälschlicherweise) den von der Polizei Verdächtigten identifizierten. So bildeten sie eine überzeugende Grundlage für Bloodsworths strafrechtliche Verfolgung.

Wenn es mehrere AugenzeugInnen gibt, unterliegen deren Berichte denselben äußeren Einflussfaktoren wie die von einzelnen Augenzeugen. Hinzu kommt, dass sie sich auch gegenseitig beeinflussen können. In Großbritannien berichteten 88 % der befragten AugenzeugInnen von der Anwesenheit weiterer ZeugInnen. Mehr als die Hälfte davon hatte sich über Details zur Tat und den TäterInnen miteinander ausgetauscht (Skagerberg & Wright, 2008). Es ist verständlich, dass man nach einem verstörenden Ereignis mit anderen über das Gesehene sprechen möchte. Die Schwierigkeit solcher Unterhaltungen liegt in der gegenseitigen Beeinflussung des Erinnerten. Erfährt man als ZeugIn, was andere gesagt haben, können diese Details unbewusst in die eigene Erinnerung integriert werden oder dafür sorgen, dass andere wichtige Details weggelassen werden (Merckelbach, van Roermund & Candel, 2007). MitzeugInnen können dadurch (versehentlich) eine gemeinsame Version des Geschehens entwickeln – oft in Anlehnung an die Version des Zeugen oder der Zeugin, der/die am sichersten wirkte (Wright, Self & Justice, 2000).

Wir neigen dazu, Informationen aus mehreren (scheinbar) unabhängigen Quellen stärker vertrauen (Harkins & Petty, 1987). So betonen Staatsanwälte gerne, dass das Aufrufen mehrerer AugenzeugInnen eine besonders starke Beweisgrundlage bilde (Garrett, 2011). Wie wir gesehen haben, ist die Existenz mehrerer AugenzeugInnen mit gleichen Berichten an sich jedoch noch kein Nachweis für deren Richtigkeit. Mehrere Augenzeugenberichte vermitteln im Ermittlungsverfahren ein Gefühl von Sicherheit. Dies ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die Berichte unabhängig voneinander und unbeeinträchtigt von Einflussfaktoren entstanden sind. Die Zuverlässigkeit jedes einzelnen Berichts muss daher genauso sorgsam geprüft werden, als wenn es nur eine/-n Zeugen/in gäbe.

Mythos #5 Das ist doch alles nur gesunder Menschenverstand

Psychologie wird oft als die Wissenschaft vom gesunden Menschenverstand (common sense) bezeichnet. So verzichten RichterInnen häufig darauf, PsychologInnen als Sachverständige auf dem Gebiet des Augenzeugengedächtnisses anzuhören, mit der Begründung, dass sie außer gesundem Menschenverstand nichts zum Verfahren beitragen könnten (z. B.  State v. Coley, 2000). Falls man Medienberichten und Gerichtsurteilen Glauben schenken kann, dann ist das Wissen um die Unzuverlässigkeit von AugenzeugInnen bereits Teil des gesunden Menschenverstands. Umfragen deuten aber darauf hin, dass Laien im Allgemeinen nicht begründen können, warum sie dem Gedächtnis nicht vertrauen oder welche Faktoren die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses beeinflussen. In einer amerikanischen Umfrage unter möglichen Geschworenen glauben nur 41 %, dass Instruktionen bei Gegenüberstellungen die Zuverlässigkeit des Identifizierungs-Ergebnisses beeinflussen können. Nur 50 % wussten, dass die Sicherheit mit der eine Zeugenaussage gemacht wird, von äußeren Einflüssen abhängt (im Gegensatz zu 98 % und 95 % der GedächtnisexpertInnen für Instruktionen bzw. Sicherheit; Benton, Ross, Bradshaw, Thomas & Bradshaw, 2006). Ähnlich abweichende Meinungen gibt es zwischen Laien und ExpertInnen, wenn es um den Einfluss des Vorhandenseins einer Waffe bei einer Tat oder die Rolle der ethnischen Zugehörigkeit bei einer Identifizierung geht (Houston, Hope, Memon & Read, 2013). Ein pauschales Misstrauen gegenüber unserem Gedächtnis ist nicht hilfreich. Der renommierte Gedächtnisforscher Endel Tulving schrieb hierzu: “Vieles in der Wissenschaft beginnt mit der Erforschung des gesunden Menschenverstands. Und vieles in der Wissenschaft […] wird doch zumindest weit über ihn hinausgehen” (2003, S. 1505). Gesunder Menschenverstand ist bequem – aber ungeeignet als Basis für Gerichtsurteile mit weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen.

Fazit

Was Medienberichte oder das Fernsehen auch suggerieren – Zeugenaussagen sind nicht weg zu denken. Sie sind im Kontext einer Vielzahl von Einflussfaktoren zu sehen. Diese müssen in jeder Phase der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung sorgfältig geprüft werden. Es ist das Ziel von WissenschaftlerInnen, an der Rechtsprechung beteiligte Personen für diese Einflussvariablen zu sensibilisieren. Dies soll dabei helfen, die Zuverlässigkeit von Beweismitteln zu beurteilen und verlässliche Beweismittel zu erlangen. Findet diese Auseinandersetzung nicht statt, sind bedauerliche Fälle wie der von Anderson vorprogrammiert; Fälle denen Unschuldige verurteilt und StraftäterInnen auf freiem Fuß bleiben und weitere Straftaten begehen können. An der Schnittstelle von Gedächtnis und Justizsystem ist die Berücksichtigung wissenschaftlicher Expertenmeinung im Prinzip nichts anderes als gesunder Menschenverstand.


Referenzen

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