How to save a life? Erkenntnisse über mediale Suizidberichterstattung und deren Folgen
Von Goethe bis Netflix: Medien haben Macht. Medien haben Wirkung. Der sogenannte Werther-Effekt ist hier ein eindrückliches Beispiel, welcher auch über verschiedene Studien hinweg immer wieder nachgewiesen werden konnte. Was genau der Werther-Effekt ist und welche Maßnahmen nun von Netflix und Co. erwartet werden könnten, hat unsere Autorin Anna-Marie Bertram zusammengetragen.
1774 hat Goethe einen Roman veröffentlicht: Die Leiden des jungen Werther. Kurz darauf war das Buch in Leipzig, Kopenhagen und Sachsen verboten. Zu dieser Zensur kam es, da sich schlagartig eine große Menge junger Menschen in ganz Europa das Leben nahm - wie auch die Hauptfigur ‘Werther’ in Goethes Roman. Wer das Buch je gelesen hat, weiß: Der Name ist Programm. Ein junger Mann leidet so sehr unter einer unmöglichen Liebe, dass er den Suizid als einzigen Ausweg sieht. Seit Goethe finden wir in den Medien und der Wissenschaft den Begriff des Werther-Effekts. Dieses Phänomen beschreibt die Beobachtung einer ansteigenden Suizidrate in der Bevölkerung nach intensiver fiktionaler oder non-fiktionaler Berichterstattung über einen solchen suizidalen Vorfall.
Bei jedem Effekt gibt es auch einen Gegeneffekt. Hier trägt dieser ebenfalls einen eindrucksvollen Namen: Papageno-Effekt. Dieser beweist, dass die Darstellung von Suizid diesen nicht heroisieren muss. In Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ gibt es jene Szene, in der Papageno über einen Suizid nachdenkt und von drei Jungen überzeugt wird, dass es sich lohnt, weiterzuleben - auch ohne seine geliebte Papagena.
Es geht also bei der Suizidberichterstattung um das Wie. Die Metaanalyse eines polnischen Forschers schaute auf 108 Studien rund um die mediale Berichterstattung von Suiziden und dessen Folgen. Domaradzki (2021) fand, dass die Mehrheit der Studien einen kausalen Zusammenhang zwischen Medienberichterstattung über Suizide und der tatsächlichen Entwicklung der Suizidrate nachweisen konnte. Eine wichtige Unterscheidung sollte hier zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Auslösern gemacht werden. Zwar ist der Werther-Effekt nach einem fiktionalen bzw. literarischen Suizid benannt worden, doch kann er bei realen Suiziden von prominenten Personen am deutlichsten nachgewiesen werden.
Am meisten ist hier der Suizid von Marilyn Monroe in Erinnerung geblieben. Das Thema war monatelang die Schlagzeile von vielen Medienformaten und wurde intensiv idealisiert - nach dem Motto “eine junge, schöne Ikone, zu gut für diese Welt, die im Selbstmord ihren Frieden fand“.
Die Studien der Metaanalyse von Domaradzki (2021) finden diesen Effekt noch heute. Berichterstattungen, die idealisiert und eine Identifikation zwischen dem toten Prominenten und den Rezipierenden schaffen, können als Risikofaktor für Nachahmer-Suizide gesehen werden. Jedoch auch genau das Gegenteil wird in den Daten sichtbar: Medienberichterstattung, die Auswege und Gefahren betont sowie mehr Distanz schafft, kann als Schutzfaktor wirken.
How to save a life? Medienschaffende müssen endlich einen Effekt anerkennen, der bereits seit 1774 bekannt ist und noch heute in Metaanalysen bestätigt werden kann. Die Berichterstattung über reale Suizide darf unter keinen Umständen heroisiert werden und auch die schiere Menge der Berichterstattung sollte eingedämmt werden. Bei fiktionalen Formaten wie beispielsweise Netflix-Serien wird es noch schwieriger: Auf der einen Seite steht die Kunstfreiheit und der große Kampf um Aufmerksamkeit für das Medienprodukt. Auf der anderen Seite steht die Frage, ob sich eine Serie wie „Tote Mädchen lügen nicht“ oder im Englischen „13 Reasons Why“ noch auf Kunstfreiheit berufen darf, wenn einem Zielpublikum im Teenageralter in vier quälenden Minuten der Suizid einer 17-jährigen Hauptdarstellerin gezeigt wird und dieser weltweit nachgeahmt wird. Die Forderung aus Domaradzki (2021), solche Formate zu überdenken, wird noch ergänzt um die Betonung, dass zwischen Suizidberichterstattung als Risiko- und solcher als Schutzfaktor oft nur ein wenig Sensibilität und journalistische Einordnung liegt. Bei „Tote Mädchen lügen nicht“ wäre dies vermutlich gar nicht so schwer gewesen: Mit 17 Jahren liegt das ganzes Leben noch vor einem und es gibt viele Hilfsangebote, auch mit furchtbaren Situationen umgehen zu können. In der fiktionalen Serie begeht die Hauptdarstellerin Suizid, taucht jedoch als Erinnerung, Geist oder in Rückblenden immer wieder auf. So wird der Eindruck gewonnen, dass ein Leben nach dem Suizid weitergeht. Diese künstlerische Konstruktion ist gefährlich und falsch und hätte anders gestaltet werden müssen. Mittlerweile gibt es vor jeder Episode der Serie Warnhinweise, nachdem das Produktionsteam entsetzt festgestellt hat, dass der Werther-Effekt auch heute noch besteht.
Bei eigenen Suizidgedanken/-versuchen oder solchen von Personen in Ihrem Umfeld: Rufen Sie in einem Notfall immer den Rettungsdienst (112) und teilen Sie ihm mit, dass die betroffene Person selbstmordgefährdet ist!
Weitere Adressen und Telefonnummer:
Telefonseelsorge
Die Telefonseelsorge steht Ihnen anonym und kostenlos rund um die Uhr zur Verfügung: 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222
www.telefonseelsorge.de
Nummer gegen Kummer
Beratungszeiten: Montag bis Freitag von 9.00 - 11.00 Uhr und Dienstag und Donnerstag von 17.00 - 19.00 Uhr
Elterntelefon: 0800 1110550
Kinder- und Jugendtelefon: 0800 1110333
www.nummer-gegen-kummer.de
AGUS – Angehörige um Suizid e.V.
AGUS ist eine Selbsthilfeorganisation für Menschen, die eine nahestehende Person durch Selbstmord verloren haben.
www.agus-selbsthilfe.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
Die DGS bietet auf ihrer Website unter anderem eine Liste von Anlaufstellen.
www.suizidprophylaxe.de
Quellen:
Domaradzki, J. (2021). The Werther Effect, the Papageno Effect or no effect? A literature review. International Journal of Environmental Research and Public Health, 18(5), 2396. doi: 10.3390/ijerph18052396
Brosius, H. B., & Ziegler, W. (2014). Massenmedien und Suizid: Praktische Konsequenzen aus dem Werther-Effekt. Communicatio Socialis, 34(1), 9-29. doi:10.5771/0010-3497-2001-1-9
Etzersdorfer, E., Voracek, M., & Sonneck, G. (2004). A dose-response relationship between imitational suicides and newspaper distribution. Archives of Suicide Research, 8(2), 137-145. doi:10.1080/13811110490270985
Niederkrotenthaler, T., Braun, M., Pirkis, J., Till, B., Stack, S., Sinyor, M., Tran, S., Voracek, M., Cheng, Q., Arendt, F., & Scherr, S. (2020). Association between suicide reporting in the media and suicide: systematic review and meta-analysis. The BMJ, 368. doi:10.1136/bmj.m575
Bildquelle:
Der Werther-Effekt und der Papageno-Effekt als Gegensatzpaar der Medienwirkungsforschung (Eigene Darstellung)
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