Schmerz im Kopf - Von Zuckerkapseln zu schmerzenden Körperteilen

Unser eigenes Schmerzempfinden beeinflusst auch unsere Fähigkeit, den Schmerz anderer Personen nachzuempfinden und richtig auf diesen zu reagieren. Wie das funktioniert, kann man mit Zuckerkapseln, einem Handkraftmesser und Schmerzreizen untersuchen.

Eine Kollegin kommt frustriert in mein Büro – ihr Paket wurde nicht richtig zugestellt. Aufgebracht berichtet sie über die unglückliche Kommunikation mit dem Paketzusteller und schlägt sich beim Gestikulieren den Ellbogen am Türrahmen an. Dieser Schmerzreiz wird in Millisekunden auf schmerzverarbeitenden Nervenbahnen vom Ellbogen über das Rückenmark ins Gehirn geleitet. Hier schlagen einige Bereiche Alarm: Manche liefern Infos zum Wo (am Ellbogen), Wie (stechend, ziehend) und Wie- lange (einige Sekunden), andere verarbeiten, wie unangenehm es sich anfühlt.

Aber nicht nur im Kopf meiner Kollegin passiert etwas. Auch ich fühle ähnliche negative Gefühle: Ärger, Frust, Schmerz. Mein Gehirn verarbeitet diese Gefühle teilweise in den gleichen Gehirnregionen wie das meiner Kollegin: Frühere Studien zeigen, dass ähnliche Hirnareale aktiv sind, wenn wir Schmerz spüren, wie wenn wir den Schmerz anderer beobachten (Lamm et al., 2011). Die Theorie der „geteilten Repräsentationen“ erklärt, dass wir die Gefühle anderer Personen nachempfinden können, weil wir unser körpereigenes Schmerzsystem reaktivieren, als würden wir selbst gerade das gleiche Gefühl empfinden. Wir spüren also laut dieser Theorie tatsächlich den Schmerz anderer direkt und unmittelbar in uns selbst. Dieses Verstehen, Teilen, und Mitfühlen-Können – kurz „Empathie“ – fördert auch unsere Motivation, der Person zu helfen.  Dazu kommen andere Hirnareale, die uns dieses Gefühl kognitiv einordnen und verstehen lassen (sog. Perspektivenübernahme).

Es erscheint praktisch, dass man seine eigene Schmerzverarbeitung nutzen kann, um den Schmerz anderer zu simulieren. Dies kann aber auch Nachteile haben, vor allem dann, wenn das eigene Schmerzsystem nicht richtig funktioniert. So kam ein Forschungsteam auf eine clevere Idee, diese Theorie zu testen: Wenn wir wirklich unsere eigene Schmerzwahrnehmung brauchen, um mit dem Schmerz anderer mitzufühlen, was passiert, wenn unser eigenes Schmerzsystem gestört ist, etwa durch ein Schmerzmittel? Tatsächlich spürten Versuchspersonen im Experiment des erwähnten Forschungsteams unter Einfluss eines Schmerzmittels nicht nur weniger eigenen Schmerz, sondern empfanden auch weniger Mitgefühl für den Schmerz einer anderen Person. Dieser Effekt funktionierte auch, wenn die eingenommene Kapsel kein Schmerzmittel war, sondern ein Placebo bzw. in diesem Fall eine Zuckerkapsel ohne Wirkstoff (Rütgen et al., 2015).

Ich fragte mich nun, ob ich diese Reaktivierung des körpereigenen Schmerzsystems auch brauche, um meiner leidenden Kollegin beizustehen: Wenn wir eigenen Schmerz weniger stark wahrnehmen, sind wir dann auch weniger hilfsbereit? Um Antworten auf diese Frage zu finden, brauchte ich viele gesunde Freiwillige, Placebo-Kapseln, und natürlich Schmerz. Der Hälfte der Versuchspersonen wurde vorher ein vermeintlich „starkes Schmerzmittel“ (aka Placebo) verabreicht, die andere Hälfte bekam keine solche Behandlung. Alle Versuchspersonen dachten dabei, dass eine zweite Person den gleichen Schmerzen ausgesetzt war wie sie selbst, und schätzte die Intensität auf einer Skala ein. In meinem Experiment konnten Personen zusätzlich durch eigene körperliche Anstrengung – das Zusammendrücken eines Handkraftmessers – Schmerzen einer zweiten Person reduzieren (Hartmann et al., 2022). Damit wurde Hilfeverhalten gemessen.

Besonders erstaunlich war, dass eine verringerte Fähigkeit, Schmerzen selbst zu empfinden, auch zu einer verringerten Bereitschaft führte, anderen zu helfen. Personen unter Einfluss eines Placebo-Schmerzmittels halfen weniger oft als Personen mit intakter Schmerzsensitivität. Und selbst wenn Personen sich dazu entschieden hatten, der anderen Person zu helfen, strengte sich die Placebo-Gruppe im Durchschnitt weniger stark an als die Kontrollgruppe. Aber wieso? Eine abschließende Mediationsanalyse zeigte, dass das Placebo-Schmerzmittel den eigenen Schmerz reduzierte. Dies dämpfte die Empathie der Personen, was wiederum zu reduziertem Hilfeverhalten führte.

Hieraus ergeben sich Schlussfolgerungen für Personen mit chronischen Schmerzen, aber auch für Personen, die regelmäßig Schmerzmedikamente einnehmen oder davon abhängig sind. Können diese Personengruppen den Schmerz anderer adäquat nachempfinden? Wie wirkt sich dies auf ihr Hilfeverhalten aus? Mit weiterer intensiver Forschung auf diesem faszinierenden Gebiet könnten wissenschaftliche Forschungsteams noch mehr darüber lernen, wie die Einnahme von echten Schmerzmedikamenten Empathie und Hilfeverhalten – vielleicht auch langfristig – verändern. Offen ist auch noch, inwiefern diese „geteilten Repräsentationen“ auch für Perspektivübernahme und andere kognitive Prozesse gelten. Sicher ist: Unsere Reaktionen auf den Schmerz anderer sind unmittelbar und direkt mit unserer eigenen Schmerzwahrnehmung verknüpft. Ich spüre den unangenehmen Ellbogenschmerz meiner Kollegin sozusagen „direkt in meinem eigenen Gehirn“. Dieses Nachempfinden motiviert mich dazu, möglichst schnell vom bequemen Bürodrehstuhl aufzuspringen und ihr zu helfen.

Literaturverzeichnis

Hartmann, H., Forbes, P. A., Rütgen, M., & Lamm, C. (2022). Placebo analgesia reduces costly prosocial helping to lower another person’s pain. Psychological Science, 33(11), 1867-1881. https://doi.org/10.1177/09567976221119727

Lamm, C., Decety, J., & Singer, T. (2011). Meta-analytic evidence for common and distinct neural networks associated with directly experienced pain and empathy for pain. Neuroimage, 54(3), 2492-2502. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2010.10.014

Rütgen, M., Seidel, E.-M., Silani, G., Riečanský, I., Hummer, A., Windischberger, C., Petrovic, P., & Lamm, C. (2015). Placebo analgesia and its opioidergic regulation suggest that empathy for pain is grounded in self pain. Proceedings of the National Academy of Sciences, 112(41). https://doi.org/10.1073/pnas.1511269112