Ist 2020 wirklich schon wieder vorbei?

Die Zeit scheint während der Corona- Pandemie unglaublich zäh und doch rasend schnell zu verfliegen. Was machen Quarantäne, Home-Office und Co. mit unserem Zeitgefühl?

„Ich habe heute die Kiste mit der Weihnachtsdekoration in den Keller gebracht. Das war ein richtiges Déjà-Vu, als hätte ich das erst gestern gemacht. Als wäre die letzte Weihnachtszeit noch gar nicht lange her,“ sage ich in den Telefonhörer. „Du meinst die Zeit, als wir uns noch zu einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt treffen konnten?“, erwidert meine Freundin wehmütig. „Es kommt mir vor, als wäre das schon eine Ewigkeit her.“

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Unser Zeitempfinden ist relativ – und durch die Corona- Pandemie gehörig durcheinandergeraten. Während für die einen das Jahr wie im Flug vergangen ist, scheint es sich für die anderen so zäh dahin zu ziehen wie alter Kaugummi. Das bestätigt auch eine Studie aus Großbritannien, in der die Psychologin Ruth Ogden etwa 600 Personen online zu ihrem Zeitempfinden während des ersten Corona-Lockdowns befragt hat. Mehr als 80% der Befragten gaben an, dass die Zeit für sie schneller oder langsamer vergangen sei also sonst. Ogden konnte außerdem feststellen, dass unter anderem das Alter einen Einfluss auf die subjektiven Unterschiede im Zeitempfinden hatte. Demnach vergingen die Tage und Wochen für Ältere langsamer. Schneller verging die Zeit für jüngere Menschen und bei größerer Zufriedenheit mit dem Maß an sozialen Kontakten (Ogden, 2020). Ein scheinbar paradoxer Befund, wenn man bedenkt, dass die Zeit für viele von uns mit zunehmendem Alter doch schneller zu vergehen scheint. Wie lassen sich diese Unterschiede in der Zeitwahrnehmung, gerade in Zeiten von Covid-19, psychologisch erklären?

Um den Faktoren, die unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen, auf die Schliche zu kommen, gilt es zunächst zwei Arten von psychologischer Zeit zu unterscheiden: Den Zeitfluss, den wir in einem bestimmten Moment wahrnehmen, und Zeiträume, an die wir uns erinnern.

Wie schnell die Zeit für uns in einer bestimmten Situation vergeht, hat viel mit unserer Aufmerksamkeit zu tun: Je stärker wir uns auf die verstreichende Zeit, zum Beispiel auf die tickende Uhr im Wartezimmer einer Arztpraxis, konzentrieren, umso langsamer vergeht sie. Haben wir ein spannendes Buch oder unser Smartphone zur Hand, sind wir abgelenkt und sie vergeht schneller. Ähnliches könnte auch für die Zeitwahrnehmung in der Pandemie gelten: Wenn der Museumsbesuch, der Abend im Kino, der Besuch der Kinder oder Enkelkinder, das Essen mit Freunden nicht mehr möglich sind, hält Langeweile Einzug in unseren Alltag, wir schenken der Zeit mehr Aufmerksamkeit – und sie scheint langsamer zu vergehen (Grondin, Mendoza-Duran & Rioux, 2020).

Schauen wir auf das Jahr 2020 zurück, dann müssen wir die vergangene Zeit retrospektiv, auf Basis unserer Erinnerungen einschätzen. Solche retrospektiven Einschätzungen sind anfällig für die Fehlbarkeit von Erinnerungsprozessen. So schätzen wir rückblickend Zeiträume, die wir mit Routinetätigkeiten verbracht haben, kürzer als ein als solche, in denen wir viel Neues erlebt haben (Avni-Babad & Ritov, 2003). Wer also mittlerweile im Home Office während des zweiten Lockdowns routiniert zwischen Schlaf- und Arbeitszimmer wechselt und im Alltag wenig Neues erlebt, für den fühlt es sich im Nachhinein so an, als sei die Zeit besonders schnell vergangen. Umgekehrt wurden wir – allen voran Eltern und Beschäftigte in systemrelevanten Berufen – zu Beginn der Pandemie mit so vielen neuen Herausforderungen, Situationen und Informationen überflutet, dass der Beginn der Krise für viele von uns gefühlt schon in weite Ferne gerückt ist (Grondin et al., 2020).

Der Einfluss von neuen Lebenserfahrungen auf unser Zeitempfinden scheint auch für ein weiteres Phänomen verantwortlich zu sein: die von Jahr zu Jahr subjektiv immer schneller vergehende Lebenszeit. Während wir uns an das schier endlos lange Warten auf Weihnachten in unserer Kindheit erinnern, scheint die Adventszeit mit zunehmendem Alter zu verfliegen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir im Laufe unseres Lebens für viele Dinge Routinen ausbilden und die Häufigkeit neuer Lebenserfahrungen abnimmt (Winkler et al., 2017). So speichern wir den alljährlichen Weihnachtsmarktbesuch nicht mehr ganz so bewusst und facettenreich in unserem Gedächtnis ab, weil die Fahrt ins Stadtzentrum, der Blick auf den beleuchteten Weihnachtsbaum und die warme Tasse Punsch in den Händen für uns einfach schon dazu gehören. Wir erleben all das nicht mehr zum ersten Mal. Auch unsere Lebensumstände ändern sich in der Regel mit zunehmendem Alter nicht mehr so stark wie noch zu Beginn unseres Lebens. Wir erleben weniger Neues, speichern weniger Erinnerungen ab und bewerten Zeitspannen in der Rückschau kürzer. Das scheint den Alterseffekt der retrospektiven Zeitwahrnehmung zu erklären.

Unsere Einschätzung, wie schnell die Zeit jetzt gerade vergeht, kann sich also erheblich von unserem Urteil unterscheiden, wie schnell die Zeit rückblickend vergangen ist. Und während unser Zeitempfinden im Hier und Jetzt von unserer Aufmerksamkeit beeinflusst wird, spielen Erinnerungen für die retrospektive Zeiteinschätzung eine wichtige Rolle. In der Corona- Pandemie kommen noch Faktoren wie Angst und Unsicherheit dazu und die Tatsache, dass uns viele zeitliche Orientierungspunkte, wie der Sportkurs am Mittwochabend oder der Familienbesuch am Wochenende, fehlen (Grondin et al., 2020).

Die Corona-Krise hat die innere Uhr vieler Menschen durcheinandergebracht. Gleichzeitig bietet sie aus Sicht der Psychologie auch eine Chance, mehr über unsere Zeitwahrnehmung zu lernen. Die Krise zeigt uns, dass Veränderungen im täglichen Leben einen bedeutsamen Einfluss auf unser Zeitempfinden haben. Mit diesem Wissen können wir, sofern die Umstände es erlauben, unser Zeiterleben auch selbst bewusst beeinflussen: Indem wir uns in den eigenen vier Wänden in einen spannenden Roman vertiefen, ein neues Rezept ausprobieren oder zum ersten Mal an einem Online-Sportkurs teilnehmen, um trotz der Einschränkungen auf ein Jahr voller neuer Eindrücke zurück blicken zu können.

 

Quellen:

Avni-Babad, D. & Ritov, I. (2003). Routine and the perception of time. Journal of Experimental Psychology, 132, 543–550. doi: 10.1037/0096-3445.132.4.543

Grondin, S., Mendoza-Duran, E. & Rioux, P.-A. (2020). Pandemic, Quarantine, and Psychological Time. Front. Psychol. 11:581036. doi: 10.3389/fpsyg.2020.581036

Ogden, R. S. (2020). The passage of time during the UK Covid-19 lockdown. PLoS ONE 15(7): e0235871. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0235871

Winkler, I., Fischer, K., Kliesow, K., Rudolph, T., Thiel, C. & Sedlmeier, P. (2017). Has it really been that long? Why time seems to speed up with age. Timing & Time Perception, 5, 168-189.

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