Kognitive Verzerrungen - Sinnvolle Denkfehler?
Welche Stadt hat mehr Einwohner? San Francisco oder San Antonio? Wer San Francisco getippt hat, ist an dieser Stelle vermutlich der sogenannten Rekognitionsheuristik zum Opfer gefallen. Heuristiken sind Faustregeln. Wir wenden sie an, wenn wir die Antwort nicht wissen. Allerdings können sie zu Fehlern im Denken und Wahrnehmen führen.
Wenn uns bei zwei oder mehr Antworten eine der Alternativen bekannt ist, tendieren wir zur Auswahl dieser. San Francisco ist den meisten eher ein Begriff als San Antonio. Nutzen wir Faustregeln wie die Rekognitionsheuristik, kann das zu sogenannten kognitiven Verzerrungen führen. Kognitive Verzerrungen sind systematische Fehler oder Abweichungen in der kognitiven Verarbeitung von Informationen, die zu falschen Urteilen, Entscheidungen oder Schlussfolgerungen führen können (Tversky & Kahnemann, 1974).
Wieso aber machen wir solche Fehler? Dafür dürften vier verschiedene Mechanismen verantwortlich sein:
- Es gibt einfach viel zu viele Informationen, deshalb haben wir keine andere Wahl als diese zu filtern. Wir müssen also aus der Fülle der Informationen solche auswählen, die weiterverarbeitet werden sollen.
- Dadurch, dass wir nicht alle Informationen aufnehmen können, entstehen Lücken, und diese Lücken füllen wir, indem wir Schemata, Stereotype oder vergangene Erfahrungen heranziehen.
- Unsere Zeit ist beschränkt, weshalb wir Entscheidungen schnell treffen müssen (und oft auch wollen).
- Nicht alle Informationen können erinnert werden, deshalb müssen wir auswählen, welche von ihnen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden sollen (Pohl, 2022).
Forschende, die eine eher pessimistische Perspektive auf kognitive Verzerrungen einnehmen, halten diese für dysfunktionale Fehler. Das würde bedeuten, kognitive Verzerrungen wären eingebaute Fehler im menschlichen Informationsverarbeitungssystem und würden damit überhaupt keinem Zweck dienen. Andere sehen kognitive Verzerrungen als Nebenprodukt kognitiver Verarbeitung an. Das wiederum würde bedeuten, dass wir mithilfe von Heuristiken sinnvolle Entscheidungen zu treffen versuchen, dabei aber manchmal scheitern. Einen optimistischeren Blickwinkel nehmen Forschende ein, die den kognitiven Verzerrungen sogar einen adaptiven Vorteil zugestehen (Pohl, 2022). Als Beispiel für einen solchen evolutionären Vorteil kann beispielsweise der Negativity Bias (dt. Negativitätsverzerrung) angesehen werden. Der Negativity Bias besagt, dass negative Informationen einen größeren Einfluss auf uns haben als positive Informationen (Rozin & Royzman, 2001). Für das eigene Überleben und das Weitergeben der eigenen Gene ist diese Verzerrung demnach hilfreich: Den Säbelzahntiger im Busch zu übersehen, oder sich nicht merken zu können, wo die giftigen Beeren wachsen, kann nämlich schnell tödlich enden. Aus evolutionärer Sicht sind kognitive Verzerrungen also als durchaus sinnvoll zu betrachten.
In manchen Fällen können sie aber auch schädlich sein. Es wird zum Beispiel angenommen, dass kognitive Verzerrungen nicht nur ein Nebenprodukt psychischer Störungen sein können, sondern oft sogar aktiv zur Aufrechterhaltung negativer Gedanken, Bilder und Verhaltensweisen beitragen, die mit solchen Störungen in Zusammenhang stehen (Witthöft, 2016). Mithilfe von Cognitive Bias Modification (CBM) wird versucht, kognitive Verzerrungen, die zur Entstehung oder Aufrechterhaltung psychischer Störungen beitragen, zu verändern. Diese Behandlungsform scheint insbesondere in Bezug auf Angstsymptome effektiv zu sein (Jones & Sharpe, 2017).
Auch im nicht-klinischen Bereich können wir kognitive Verzerrungen reduzieren, zum Beispiel, indem wir mögliche Denkfehler kennen und uns bewusst machen, dass wir gerade einer kognitiven Verzerrung unterliegen könnten. Wenn wir also die eingangs gestellte Frage beantworten möchten, kann es hilfreich sein, sich nicht sofort zu entscheiden, sondern erst einmal nach mehr Informationen zu suchen: Wo liegt San Francisco? Wie groß ist die Stadt flächenmäßig? Was weiß ich über San Antonio? So ist es möglich, zu einer fundierteren Entscheidung zu kommen. Falsch kann diese natürlich trotzdem sein. Irren ist menschlich.
Literaturverzeichnis
Jones, E. B., & Sharpe, L. (2017). Cognitive bias modification: A review of meta-analyses. Journal of Affective Disorders, 223, 175-183.
Pohl, R. F. (2022). What are cognitive illusions?. In R.F. Pohl (Ed.), Cognitive Illusions (pp. 3-23). Routledge.
Rozin, P., & Royzman, E. B. (2001). Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review, 5(4), 296-320.
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases: Biases in judgments reveal some heuristics of thinking under uncertainty. Science, 185(4157), 1124-1131.
Witthöft, M., Kerstner, T., Ofer, J., Mier, D., Rist, F., Diener, C., & Bailer, J. (2016). Cognitive biases in pathological health anxiety: The contribution of attention, memory, and evaluation processes. Clinical Psychological Science, 4(3), 464-479.
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