Mobbing geht alle an! Welche Rolle Bystander bei systematischer Schikane spielen

Laut einer groß angelegten internationalen Studie werden rund 10% der 11- bis 15-Jährigen gemobbt (Inchley et al., 2020a). Pro Schulklasse gibt es demnach durchschnittlich „nur“ zwei bis drei Opfer. Warum Mobbing trotzdem alle etwas angeht, ist Thema dieses Blogbeitrags.

play figures exclusion Mobbing, also die anhaltende systematische Schikane von schwächeren Gruppenmitgliedern, ist international verbreitet. Eine repräsentative Studie, an der 50 Länder und Regionen aus Europa und Nordamerika beteiligt sind, zeigt, dass Mobbing kein Problem einzelner Länder ist (Inchley et al., 2020b). In den deutschsprachigen Ländern berichteten 4-11 % der befragten Heranwachsenden, in der Schule schikaniert zu werden, und 2-10 % gaben an, andere zu schikanieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der Schüler*innen unbeteiligt ist. Abgesehen von der Tatsache, dass kaum jemand gerne zugibt, andere zu drangsalieren, und der Anteil der Täter*innen in klassischen Befragungen daher möglicherweise unterschätzt wird, muss Mobbing als Gruppenphänomen verstanden werden (Björqvist et al., 1982). Es findet überwiegend in kleinen, fest zusammengesetzten Gruppen statt – oftmals in Anwesenheit anderer – und zieht sich über einen längeren Zeitraum hin, weshalb davon auszugehen ist, dass neben den Täter*innen und Opfern weitere Mitschüler*innen von den Schikanen wissen (Björqvist et al., 1982). Mobbing kann sich demnach nur unter Duldung oder sogar Zutun der Peer-Gruppe etablieren.

Die Zeugen von Notsituationen werden in der Sozialpsychologie als Bystander bezeichnet. Welche Rollen Bystander beim Mobbing einnehmen, wurde seit den 90er-Jahren in einer Reihe von Studien untersucht (Salmivalli, 2010): Einerseits gibt es Mitläufer*innen, die sich den Täter*innen anschließen und beim Mobbing mitmachen, sowie Klassenkamerad*innen, die den Täter*innen ein Publikum bieten und die aggressiven Handlungen durch beispielsweise Aufmerksamkeit und Lachen verstärken. Andererseits gibt es auch Außenstehende, die sich aus dem Geschehen heraushalten, und Verteidiger*innen, die das Opfer trösten und unterstützen. Kritisch zu sehen ist unter diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen nicht nur die aktive Beteiligung an den Schikanen, sondern jegliches Verhalten, das den Täter*innen signalisiert, dass die Angriffe auf das Opfer befürwortet oder zumindest geduldet werden. Täter*innen haben im Vergleich zu anderen Heranwachsenden ein besonders ausgeprägtes Streben nach Dominanz und hohem Status. Belustigte oder verschüchterte Reaktionen vermitteln ihnen den Eindruck, dieses Ziel mit Mobbing zu erreichen, und wirken daher wie eine Belohnung (siehe Belohnungslernen). Forschung hat gezeigt, dass das Verhalten der Klasse mit dem Risiko, gemobbt zu werden, und dem Wohlbefinden der gemobbten Schulkinder zusammenhängt (Salmivalli, 2010): In Klassenverbänden, in denen pro-aggressives Verhalten vorherrscht und wenig verteidigendes Verhalten gezeigt wird, haben schwache Klassenmitglieder (d.h. sozial unsichere und abgelehnte Kinder) ein höheres Risiko, zum Opfer zu werden, als in Klassen, wo Umgekehrtes der Fall ist. Zudem geht es Opfern, die verteidigt werden, besser als Opfern ohne Verteidiger*innen. Ungünstigerweise zeichnet sich über eine Vielzahl von Studien über nunmehr 25 Jahre relativ eindeutig ab, dass die Verteidigenden den Mobbing begünstigenden Rollen zahlenmäßig unterlegen sind (Knauf, 2022).

Wenngleich Schulklassen aufgrund ihrer strukturellen Merkmale (übersichtliche Gruppen, die nicht frei gewählt und nicht ohne Weiteres verlassen werden können) Mobbing begünstigen, sind sie bei Weitem nicht der einzige Schauplatz. Mobbing tritt auch am Arbeitsplatz, in Vereinen, im Gefängnis und in Heimen auf (Monks & Coyne, 2011). Insbesondere im Kontext von Mobbing am Arbeitsplatz wurde die Rolle der Bystander ebenfalls intensiv beforscht und deren Relevanz für den Mobbing-Prozess erkannt (Pouwelse et al., 2021).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mobbing ein weit verbreitetes Phänomen ist. Es betrifft nicht nur einzelne Individuen, sondern fußt auf Gruppenprozessen und geht somit die ganze Gruppe an. Das Verhalten der Bystander hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob sich aus gelegentlichen Aggressionen Mobbing entwickelt. Leider ist es nicht etwa so, dass die Bystander den Opfern in erster Linie beistehen. Verhaltensweisen, die das Mobbing begünstigen, sind eher die Regel. Umso wichtiger ist es, dass alle, die in ihrem Umfeld Mobbing mitbekommen, nicht wegschauen, sondern Teil der Lösung werden, statt Teil des Problems zu bleiben. 

 

Quellen:

Björqvist, K., Ekman, K., & Lagerspetz, K. (1982). Bullies and victims: Their ego picture, ideal ego picture and normative ego picture. Scandinavian Journal of Psychology, 23(1), 307–313. https://doi.org/10.1111/j.1467-9450.1982.tb00445.x

Branson, C. E., & Cornell, D. G. (2009). A comparison of self and peer reports in the assessment of middle school bullying. Journal of Applied School Psychology, 25(1), 5–27. https://doi.org/10.1080/15377900802484133

Inchley, J., Currie, D., Budisavljevic, S., Torsheim, T., Jåstad, A., & Cosma, A. e. a. (2020a). Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey in Europe and Canada. International report: Volume 1. Key findings. WHO Regional Office for Europe. 

Inchley, J., Currie, D., Budisavljevic, S., Torsheim, T., Jåstad, A., & Cosma, A. e. a. (2020b). Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey in Europe and Canada. International report: Volume 2. Key data. WHO Regional Office for Europe. 

Knauf, R.‑K. (2022). Bullying im Klassenverband - doch nicht nur in der Schule: Eine Charakterisierung der Rollen bei Schul- und Cyberbullying (1st ed. 2022). Springer eBook Collection. Springer Fachmedien Wiesbaden; Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36619-3

Monks, C. P., & Coyne, I. (2011). Bullying in different contexts. Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9780511921018

Pouwelse, M., Mulder, R., & Mikkelsen, E. G. (2021). The role of bystanders in workplace bullying: An overview of theories and empirical research. In Pathways Of Job-related Negative Behaviour (pp. 385–422). Springer Singapore. https://doi.org/10.1007/978-981-13-0935-9_14

Salmivalli, C. (2010). Bullying and the peer group: A review. Aggression and Violent Behavior, 15(2), 112–120. https://doi.org/10.1016/j.avb.2009.08.007

 

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