Psychische Gesundheit als Kontinuum: Wie ein Perspektivwechsel Stigmatisierung abbaut
Viele Menschen denken bei psychischer Gesundheit in Kategorien: Entweder man ist gesund oder krank. Das Konzept der Kontinuumsüberzeugungen bricht mit diesem Schwarz-Weiß-Denken und macht sichtbar, dass es Zwischenstufen und Gemeinsamkeiten gibt. Aktuelle Studien zeigen, dass solche Überzeugungen Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Beschwerden verringern können und neue Chancen für hilfreiche Interventionen eröffnen. Doch warum könnte es auch für Dich im Alltag wichtig sein, psychische Gesundheit als Kontinuum zu betrachten?
Psychische Gesundheit wird oft als kategorischer Gegensatz verstanden: Entweder man ist gesund oder krank – ein „Entweder-oder“ mit klaren Grenzen. Diese Sichtweise fördert jedoch Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Beschwerden und schafft Distanz indem es ein „wir“ und „sie“ Denken fördert (Link & Phelan, 2001). Genau hier setzt das Konzept der Kontinuumsüberzeugungen an (Schomerus et al., 2013). Die Idee dahinter besagt, dass es keine harte Trennlinie zwischen „gesund“ und „krank“ gibt. Stattdessen bewegen wir uns alle auf einer Skala: von schweren psychischen Symptomen, etwa einer psychotischen Krise, über leichtere oder vorübergehende Belastungen, wie ein paar Nächte ohne Schlaf, bis hin zu Phasen ganz ohne Beschwerden. Ein ganz konkretes Beispiel: Menschen, die wahnhaft davon überzeug sind, verfolgt zu werden, erleben intensive paranoide Angst. Diese Vorstellung können sie nicht einfach loslassen – es ist ein Ausdruck psychischer Konflikthaftigkeit und Leids. In abgeschwächter Form kennen wir ähnliche Erfahrungen jedoch alle in denen wir zufällige Ereignisse kurz falsch deuten. Wir hören ein Lied, das unsere Stimmung perfekt trifft, und haben kurz das Gefühl, es laufe „nur für mich“ im Radio. Oder wir glauben, im Vorbeigehen eine bekannte Person zu erkennen, drehen uns um – und sehen, dass es jemand anderes ist. In solchen Momenten verwerfen wir den Gedanken wieder, lachen darüber oder ärgern uns kurz über unsere eigene Schreckhaftigkeit.
Kontinuumsüberzeugungen prägen, wie wir psychische Erkrankungen wahrnehmen: nicht als etwas völlig Abgetrenntes, sondern als Teil des normalen menschlichen Erlebens. Studien zeigen außerdem, dass man dieses Denken gezielt fördern kann – etwa durch Aufklärung oder kurze Trainings. Es ist die Vorstellung, dass psychische Erfahrungen fließend sind, zwischen leichter Belastung und Krankheit liegen und letztlich uns alle betreffen können.
Eine systematische Übersicht und Meta-Analyse zeigt auf, dass Menschen mit ausgeprägteren Kontinuumsüberzeugungen weniger stigmatisierende Einstellungen zeigen (Peter et al., 2021): Zum Beispiel hängen solche Überzeugungen mit weniger Angst vor Menschen mit psychischen Erkrankungen und einem verringerten Wunsch nach sozialer Distanz zusammen – selbst bei stark stigmatisierten Diagnosen wie Schizophrenie. Auch erste Interventionen in denen die Studienteilnehmenden eine kurze Geschichte lasen oder ein Video dazu schauten, die das Konzept der Kontinuumsüberzeugungen veranschaulichen und die Teilnehmenden zum Nachdenken anregen, konnten solche Überzeugungen stärken (Peter et al., 2024). Wie genau sich solche Interventionen, die Kontinuumsüberzeugungen stärken, langfristig auf stigmatisierende Einstellungen auswirken, ist bisher noch offen und muss in zukünftigen Studien untersucht werden.
Warum ist das Thema auch außerhalb der Forschung relevant? Wenn wir uns psychische Gesundheit entlang eines Kontinuums vorstellen, erlaubt uns das, psychische Belastungen und Symptome psychischer Krisen, auch die eigenen, als etwas Menschliches zu begreifen. Das heißt nicht, dass wir jede Erfahrung einer anderen Person nachvollziehen können, aber es könnte uns einen toleranteren Blick für andere geben – und auch für uns selbst. Schließlich kennen viele von uns Situationen, in denen wir schlecht schlafen, uns traurig fühlen oder in der Straßenbahn kurz paranoid denken, alle Blicke seien auf uns gerichtet. Kontinuumsüberzeugungen bieten damit ein hilfreiches Werkzeug, solche eigenen Erfahrungen neugierig einzuordnen: nicht als etwas grundlegend „Krankes“, sondern als Teil des eigenen menschlichen Erlebens.
Literaturverzeichnis
Link, B. G. & Phelan, J. C. (2001). Conceptualizing stigma. Annual Review of Sociology, 27(1), 363–385. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.27.1.363
Peter, L.‑J., McLaren, T., Muehlan, H., Fleischer, T., Tomczyk, S., Schmidt, S. & Schomerus, G. (2024). Active psychoeducational components of antistigma interventions for untreated depressive symptoms: Specific effects of continuum beliefs? Stigma and Health. Vorab-Onlinepublikation. https://doi.org/10.1037/sah0000522
Peter, L.‑J., Schindler, S., Sander, C., Schmidt, S., Muehlan, H., McLaren, T., Tomczyk, S., Speerforck, S. & Schomerus, G. (2021). Continuum beliefs and mental illness stigma: a systematic review and meta-analysis of correlation and intervention studies. Psychological medicine, 1–11. https://doi.org/10.1017/S0033291721000854
Schomerus, G., Matschinger, H. & Angermeyer, M. C. (2013). Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry research, 209(3), 665–669. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2013.02.006
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