Virtuelle Realität: Kann die “Empathie-Maschine” Vorurteile bekämpfen?
Virtuelle Realität (VR) gilt seit Jahrzehnten als Revolution - nicht nur für Videospiele, sondern auch für verschiedenste Anwendungen im Trainings- und Schulungsbereich. In den letzten Jahren wird zunehmend ein weiterer Anwendungsbereich beforscht: Wie können wir VR nutzen, um die Mechanismen von Vorurteilen weiter zu untersuchen oder sogar abzubauen?
Wenn man Virtuelle Realität (VR) erwähnt, denken die meisten Menschen wohl an Videospiele. Doch schon länger wird VR auch in sehr praktischen Bereichen eingesetzt: von der Chirurgenausbildung über die Angsttherapie bis hin zum Armeetraining. In den letzten Jahren haben sich immer mehr sozialpsychologische Forschungsteams damit beschäftigt, wie sie VR für eines ihrer Hauptthemen nutzen können: Vorurteile und Diskriminierung. Dabei gibt es so manchen Grund zur Hoffnung, dass VR ein nützliches Interventionswerkzeug sein kann. Manche Ergebnisse mahnen jedoch auch zur Vorsicht.
Was also meinen wir generell, wenn wir von VR sprechen? Der entscheidende Aspekt ist, dass VR eine immersive Erfahrung bietet, also das Eintauchen in eine virtuelle Welt, bei der die physische Umgebung weitestgehend ausgeblendet wird. Dies geschieht typischerweise über ein sogenanntes Head-Mounted Display, also die bekannte “VR-Brille”. Die Immersion, also das Gefühl, an dem virtuellen Ort zu sein, wird meist verstärkt durch die Illusion, in einem virtuellen Körper ( Avatar) zu stecken, durch den man mit der virtuellen Welt interagieren kann. Dieses Phänomen wird als Embodiment ( = Verkörperung) bezeichnet.
VR bietet zwei Hauptmöglichkeiten, wie man versuchen kann, Vorurteile abzubauen: Zum einen lässt sich gemäß der Kontakthypothese positiver Kontakt zwischen Studienteilnehmenden und einem (virtuellen) Mitglied einer anderen sozialen Gruppe herstellen. Von vielen Studien, in denen analoger, aber auch computervermittelter Kontakt zwischen Gruppen hergestellt wurde, wissen wir, dass sich dadurch Einstellungen gegenüber der kontaktierten Gruppe verbessern können. Die Hoffnung ist, dass VR mit seinem starken Potential zur Immersion ähnliche Effekte wie “echter” Kontakt erzielt. Dadurch, dass die virtuelle Umwelt von wissenschaftlichen Forschungsgruppen konstruiert wird, besteht jedoch deutlich mehr Kontrolle über das Geschehen als bei analogen Kontakten. In vielen Studien wird die Fremdgruppe deswegen auch durch einen computergesteuerten Charakter repräsentiert.
Zum anderen bietet VR ganz neue, einzigartige Möglichkeiten: wenn Studienteilnehmende einen Avatar steuern, kann dieser so gestaltet werden, dass er ein Mitglied einer anderen sozialen Gruppe repräsentiert. Ein Beispiel wären männliche Versuchsteilnehmende, die einen weiblichen Avatar verkörpern. Die Idee dabei ist zum einen, dass wir durch dieses Verkörpern die Perspektive der anderen Person oder Gruppe einnehmen, und zum anderen, dass die Grenze zwischen der Selbstrepräsentation und der Repräsentation der anderen verwischt. Dadurch sollten sich v.a. negative implizite Einstellungen ändern, die schnell und automatisch aktiviert werden, da wir die Fremdgruppe in unser Selbstbild mit einschließen und daher positiver bewerten.
Einige Studien, in denen Teilnehmende ein Mitglied einer Fremdgruppe “verkörperten”, kamen durchaus zu diesem Ergebnis: So zeigten beispielsweise weiße Spanierinnen weniger implizite Vorurteile gegenüber schwarzen Menschen, wenn sie während eines Tai-Chi-Trainings in VR einen schwarzen Avatar verkörperten, als wenn ihr Avatar weiß war.
Dieselben AutorInnen mahnen jedoch auch zur Vorsicht: In einer später durchgeführten Studie zeigten sie, dass das Verkörpern eines schwarzen Avatars auch zu stärkeren impliziten Vorurteilen führen kann, wenn diese Erfahrung eine negative Konnotation hat. In dieser Studie zeigten sie, dass das Erleben eines negativen sozialen Szenarios (Vermeidung und abwertende Blicke durch andere Agierende im virtuellen Raum) im schwarzen Avatar dazu führte, dass die impliziten Vorurteile stärker wurden als vorher. Die AutorInnen führten dies darauf zurück, dass der erlebte negative Affekt auf die Meinung gegenüber der Fremdgruppe “abfärbte” und damit die Evaluation verschlechterte. Das Ergebnis stellt somit den Ansatz in Frage, die Erfahrungen einer anderen Person durch Verkörperung dieser empathischer nachempfinden zu können.
Diese Ergebnisse sind unter anderem relevant für Designende von Videospielen. Schließlich spielen immer mehr Menschen VR-basierte Videospiele, in denen Angehörige unterschiedlichster sozialer Gruppen repräsentiert sind. Wenn beispielsweise das Verkörpern eines schwarzen Charakters zu stärkeren Vorurteilen führen kann, wirft das wichtige ethische Fragen zum Spieldesign auf. Natürlich steht diese Forschung noch recht am Anfang und wir wissen noch wenig darüber, wie sich komplexere Szenarien wie die in Videospielen auf Vorurteile auswirken. Mögliche unbeabsichtigte Konsequenzen sollten hier aber stets im Blick behalten werden.
Anmerkung: Matilde Tassinari (Universität Helsinki) trug große Teile zu einer früheren Version dieses Beitrags bei.
Quellen:
Banakou, D., Hanumanthu, P. D., & Slater, M. (2016). Virtual embodiment of white people in a black virtual body leads to a sustained reduction in their implicit racial bias. Frontiers in Human Neuroscience, 601.
Banakou, D., Beacco, A., Neyret, S., Blasco-Oliver, M., Seinfeld, S., & Slater, M. (2020). Virtual body ownership and its consequences for implicit racial bias are dependent on social context. Royal Society Open Science, 7(12), 201848.
Hasler, B. S., Hirschberger, G., Shani-Sherman, T., & Friedman, D. A. (2014). Virtual peacemakers: Mimicry increases empathy in simulated contact with virtual outgroup members. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 17(12), 766-771.
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