Was ist struktureller Rassismus?
Rassismus-Vorwürfe fühlen sich schnell wie ein persönlicher Angriff an, obwohl solche Vorwürfe auch als Kritik an Strukturen gemeint sein können. Den Unterschied zwischen individuellen rassistischen Vorurteilen und strukturellem Rassismus zu verstehen kann dabei helfen, Missverständnissen vorzubeugen und mehr Verständnis für bestehende Ungleichheiten - und Rassismus - in unserer Gesellschaft schaffen.
In den letzten Tagen und Wochen diskutierten viele wissenschaftlich arbeitende Psycholog*innen kontrovers das Verhalten eines Editors beim Journal Perspectives on Psychological Science. Unter anderem fiel hier auch ein Vorwurf von Rassismus. Die Reaktionen auf diese Vorwürfe reichen – wie sehr häufig in solchen Debatten – von deutlicher Zustimmung bis zu starkem Widerspruch, obwohl alle Beteiligten sich einig zu sein scheinen, dass expliziter Rassismus an sich verabscheuenswert ist. Dies legt nahe, dass der Rassismus-Begriff hier von verschiedenen Personen sehr unterschiedlich genutzt zu werden scheint. Einige solcher Missverständnisse lassen sich möglicherweise durch eine Abgrenzung von “strukturellem Rassismus” versus “Rassismus als persönliches Überzeugungssystem” aufklären.
Struktureller Rassismus (auf Englisch auch “systemic racism”) wird in den USA oft als “system of oppression” definiert, also als System, in dem Menschen aufgrund bestimmter (“rassifizierter”) Merkmale in Gruppen unterteilt werden (z. B., deutsch: https://mediendienst-integration.de/artikel/was-ist-struktureller-rassis..., englisch: https://racism.org/articles/defining-racism/3115-defining-racism-beyond, für eine komplexere und vollständigere Debatte, siehe z. B. Rommelspacher, 2009). Dabei haben manche Gruppen mehr Zugang zu Ressourcen und generell mehr Entscheidungsfreiheit und Macht, während dieser Zugang für andere Gruppen tendenziell unterdrückt wird. Die Perspektiven der übergeordneten Gruppen werden generell als wertvoller und “objektiver” angesehen als die der untergeordneten Gruppen. Ein solches System wächst historisch, kann aber lange über seine historischen Ursprünge hinaus präsent bleiben. Eine rassistische Handlung ist demnach eine Handlung, deren Wirkung dazu beiträgt, dieses System von Ungleichheit aufrechtzuerhalten und somit Menschen aus den benachteiligten Gruppen gleiche Chancen und den gleichen Zugang zu Ressourcen zu verwehren. Ein Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Ungleichheit besteht darin, Perspektiven von benachteiligten Gruppen als weniger wertvoll zu bewerten. Dies kann unabhängig davon passieren, ob die handelnde Person persönlich Menschen aus der anderen Gruppe abwertet, rassistische Überzeugungen hat oder gar eine aktive, persönliche Absicht hat, benachteiligend zu handeln. “Struktureller Rassismus” geht also explizit über eine Definition von Rassismus als persönliches Überzeugungssystem hinaus und kann auch unabhängig von diesem vorliegen.
Hier lohnt sich ein Vergleich mit dem
Konzept “Sexismus”, bei dem es sich sehr ähnlich wie bei strukturellem Rassismus verhält. Wenn beispielsweise eine Gruppe männlicher Politiker gemeinsam entscheidet, ob das Abtreibungsrecht oder das Recht auf Mutterschutz gewährt wird oder nicht, ohne dabei Frauen in die Diskussion einzubeziehen, dann wirkt dies auf viele Menschen “sexistisch”, denn die Perspektive der Frauen wird hier explizit nicht einbezogen, obwohl die Gesetzeslage sie unumstritten mehr beeinflussen wird. Dieser Eindruck entsteht unabhängig davon, ob die einzelnen Männer verheiratet sind und Töchter haben und diese Frauen und Töchter lieben und respektieren oder ansonsten negative oder positive Einstellungen gegenüber Frauen haben. Die sexistisch wirkende Handlung ist also nicht gleichzusetzen mit “Vorurteilen auf der Basis von Geschlecht”. Mit “Sexismus” wird häufig eher ein gesellschaftliches System von Benachteiligung als individuelle
Vorurteile beschrieben.
Genauso verhält es sich mit dem Begriff “Rassismus”. Struktureller Rassismus findet aus dieser Sicht dann statt, wenn weiße Menschen die Perspektiven von nicht-weißen Menschen übergehen oder als weniger wertvoll und weniger “objektiv” beschreiben. Ein Beispiel für eine solche Situation kann demnach auch in einer Debatte über Diversität und der Forderung nach mehr Teilhabe und Repräsentation im Wissenschaftsbetrieb stattfinden. Dies ist z. B. der Fall, wenn weiße Forschende die Beiträge von nicht-weißen Forschenden in einer solchen Debatte z. B. mit Begriffen wie “Beschwerden” beschreiben, ohne die Perspektiven anderer nicht-weißer Menschen einzubeziehen. Eine solche Reaktion kann unsensibel wirken, vergleichbar mit einer Situation, in der Männer Forderungen von Frauen zu Mutterschutz oder gleichen Chancen als Beschwerden beschreiben und dies vor allem mit anderen Männern ausdiskutieren, ohne Frauen in die Diskussion miteinzubeziehen. Diese Wirkung ist unabhängig davon, ob die betreffenden Personen persönliche
Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen (oder Frauen, im
Sexismus-Beispiel) haben. Wenn eine Handlung also als Manifestation von strukturellem Rassismus bewertet wird, dann geht es an erster Stelle nicht darum, der handelnden Person persönliche
Vorurteile oder rassistische Überzeugungen zuzuschreiben. Vielmehr geht es um die aus diesen Entscheidungen und mangelndem Einbezug resultierende Entwertung der Perspektive von nicht-weißen Menschen.
Unterschiedliche Verständnisse vom Begriff “Rassismus” können zu Missverständnissen führen. So passiert es häufig, dass Menschen, denen Rassismus vorgeworfen wird, zu ihrer Verteidigung Beispiele dafür vorbringen, dass ihre Einstellungen gegenüber Minderheiten und Gleichheit insgesamt positiv sind, dass sie Diversität gutheißen und dass ihnen entsprechend keine persönlichen Absichten unterstellt werden sollten. Aber darum geht es aus der Perspektive von strukturellem Rassismus nicht. Wenn eine nicht-weiße Person versucht, einem weißen Menschen nahezubringen, dass sie sich in den Strukturen benachteiligt fühlt (und dass somit Rassismus zu sehen ist), dann spielt es keine Rolle, ob die weiße Person sonst belegen kann, dass ihre Intentionen insgesamt wohlwollend sind. Der Aufruf richtet sich aus Sicht von strukturellem Rassismus daran, bestehende Entscheidungsstrukturen zu hinterfragen. Der Bezug auf individuelle Einstellungen kann entsprechend ablenkend wirken. Die Diskussion geht um die Benachteiligung unterrepräsentierter Gruppen, die aus einer konkreten Handlung resultiert, nicht um die Unterstellung persönlicher
Vorurteile oder allgemeiner, diskriminierender Handlungsabsichten. Eine mögliche zielführende Reaktion könnte sich stattdessen auf diese Handlungen beziehen. Hier könnte man z. B. entweder Fehler eingestehen oder die Entscheidungsstrukturen in Bezug auf Repräsentation und Diversität verteidigen.
Die Frage, was Rassismus und wer ein Rassist ist, lässt sich kaum in einem einzelnen Kurzbeitrag ausführlich diskutieren und auch nicht klären. Anstatt auf einer “richtigen” oder “falschen” Definition zu bestehen, und bevor man Vorwürfen von Rassismus widerspricht, lohnt es sich aber sicher, an erster Stelle zu verstehen, was mit dem Vorwurf überhaupt gemeint ist. Wir hoffen, dieser Beitrag kann dabei helfen.
Quellen
- Rommelspacher, Birgit: Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, C., Mecheril, P. (2009): Rassismuskritik, Band I: Rasismustheorie und -forschung. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 25-38
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