Was, wenn die Corona-Krise zum Beziehungsproblem wird

Dank Covid-19/Corona verbringen wir plötzlich alle mehr Zeit zu Hause. Viele von uns tun das im Kreise der Familie, mit dem/der PartnerIn oder den Kindern. Einige werden diese Zeit nutzen dem/der PartnerIn näherzukommen. Andere werden erleben, dass der ungewohnt enge Kontakt vermehrt zu Konflikten führt. Bindungsstile helfen einen Teil dieser Konflikte besser zu verstehen.

Mit anderen Menschen auf engem Raum zusammenzuleben kann eine Herausforderung sein, selbst, wenn man diese Menschen liebt. Wie belastend diese Situation für den einzelnen ist, lässt sich unter anderem durch den Bildungsstil einer Person vorhersagen. Bindungsstile beschreiben, was Menschen von Beziehungen erwarten. Da der Mensch in der Gruppe Sicherheit und Schutz genießt, haben wir eine Art Bindungssystem, das dafür sorgt, dass wir die Nähe anderer Menschen suchen. Die gilt besonders in Krisensituationen, wenn wir Stress oder Angst haben – wie etwa die aktuelle Corona- Pandemie (Simpson & Rholes, 2017). Die Forschung geht davon aus, dass Menschen sich darin unterscheiden, welche Art von Unterstützung sie von ihren Mitmenschen erwarten. Diese Erwartungen bestimmen, ob sie anderen nah sein wollen oder nicht. Sie werden durch Interaktionen in der Kindheit geprägt und sind über die Lebensspanne relativ stabil (Allen et al., 2004). 

Der Bindungsstil wird durch zwei Dimensionen beschrieben (Simpson & Rholes, 2017): Vermeidung (von Nähe) und Angst (verlassen zu werden). Vermeidung beschreibt, wie angenehm emotionale Nähe und Intimität für eine Person sind. Angst beschreibt, wie sehr eine Person erwartet, von einem Partner im Stich gelassen zu werden bzw. ihm/ ihr nicht genügen zu können. 

Aus der Kombination dieser 2 Dimensionen ergaben sich die vier Bindungsstile:

  • sicher

  • gleichgültig-vermeidend

  • ängstlich-ambivalent

  • ängstlich-vermeidend

 

Menschen mit sicherer Bindung schätzen emotionale Nähe und haben kaum Angst davor, verlassen zu werden. Sie haben besonders stabile und zufriedenstellende Beziehungen mit anderen Menschen (Levine & Heller, 2011), fühlen sich von anderen unterstützt und gehen deshalb gerne auf andere zu. Sicher-Gebundene sind besonders gut darin, ihre Gefühle verbal und non-verbal zu kommunizieren und sie bei anderen zu erkennen (DiTommaso et al., 2003). Eine sichere Bindung entsteht bei Kindern, wenn sie sich in ihrer Familie akzeptiert und geliebt fühlen. Personen mit gleichgültig-vermeidendender Bindung empfinden Intimität als unangenehm, haben aber keine Angst verlassen zu werden. Diese Bindung entsteht bei Kindern, die lernen, dass sie von ihren Eltern keine oder keine sinnvolle Unterstützung erhalten. Sie beginnen deshalb ihr Bindungssystem zu ignorieren und ziehen sich in einer Krise zurück, um sich allein zu beruhigen. Menschen mit ängstlich-ambivalenter Bindung sehnen sich nach Intimität, haben aber Angst, verlassen zu werden. In ihrer Kindheit haben sie gelernt, dass sie von anderen sinnvoll unterstützt werden, aber nur, wenn sie sich intensiv um deren Aufmerksamkeit bemühen. Diese Menschen haben ein hyperaktives Bindungssystem, das sie ständig den Kontakt zu anderen suchen lässt. Sie sehen überall Hinweise dafür, dass Andere sich von ihnen abwenden oder sie verlassen wollen. Ängstlich-vermeidenden Personen ist Intimität unangenehm und sie haben Angst, verlassen zu werden. Sie erwarten von anderen keine sinnvolle Unterstützung, fühlen sich aber im Gegensatz zu gleichgültig-vermeidend Gebundenen auch unwohl, wenn sie auf sich allein gestellt sind. Dieser Bindungsstil entsteht in besonders dysfunktionalen Familien. Ängstlich-vermeidende Personen glauben nicht daran, der Aufmerksamkeit anderer würdig zu sein und ziehen sich in Krisen zurück, obwohl sie nicht gerne allein bleiben. 

Basierend auf den Bindungsstilen lässt sich eine Vorhersage treffen, wer in einer Stresssituation wie reagieren wird. Sicher und ängstlich-ambivalent gebundene Personen suchen in Stress- und Krisensituationen vermehrt die Nähe wichtiger Bezugspersonen (z.B. PartnerIn). Im Gegensatz dazu wollen sich Menschen mit vermeidender Bindung zurückziehen, weil sie aufgrund ihrer negativen Erfahrungen nicht erwarten, von anderen erfolgreich unterstützt zu werden. Wenn beide PartnerInnen die Nähe des anderen suchen, dann können sie in der Corona-Krise mehr Intimität zum/ zur PartnerIn aufbauen. Haben sie allerdings gegensätzlichen Ziele, dann kann die Selbstisolation bzw. die Ausgangssperre Konflikte erzeugen.

Besonders kritisch kann die Situation für Paare werden, bei denen die eine Person eher ängstlich-ambivalent und die andere eher gleichgültig-vermeidend gebunden ist – was eine häufige Kombination darstellt. Wenn die Person mit dem vermeidenden Bindungsstil sich zurückzieht, wird die ängstlich-ambivalent gebundene Person dies wahrscheinlich als Hinweis verstehen, dass sie abgewiesen oder verlassen wird. Dies ist ein stark angstauslösender Zustand, der im Betroffenen zu Hilflosigkeit, Panik oder Wut führen kann. Dabei ist sich die vermeidende Person keines Problems bewusst; sie hatte nie vor zu gehen, und wollte sich nur in ihrer eigenen Weise um das Problem kümmern. Um einer Eskalation in der aktuellen Krise entgegenzuwirken, ist es wichtig, der vermeidend-gebundenen Person Freiraum zu geben. Auf der anderen Seite ist jetzt jede Aufmerksamkeit und Zuwendung der vermeidendend gebundenen Person gegenüber der ängstlich-ambivalent gebundenen Personen eine besonders wertvolle Investition in die Beziehung. Nach Ende der Krise wird die vermeidende Person typischerweise wieder emotional zugänglicher und die ängstlich-ambivalente Person unabhängiger.

Als ersten Schritt, um solche Konflikte zu verringern, ist es sinnvoll sich mit dem eigenen Bindungsstil und dem des/ der PartnerIn zu beschäftigen (siehe zum Beispiel Levine & Heller, 2011). Langfristig können diese Dynamiken in einer Beziehungsberatung verändert werden, damit sich die PartnerInnen zukünftig auch in Krisensituationen unterstützen können. BeraterInnen und PsychologInnen haben wirkungsvolle Methoden entwickelt, um Bindungsstile positiv zu beeinflussen und dadurch die Beziehungszufriedenheit und -stabilität zu erhöhen. Typische Trainingsmethoden (DiTommaso et al., 2003; Masi et al., 2011) verbessern den Ausdruck und das Erkennen von Emotionen und regen dazu an, das Verhaltens des/der PartnerIn neu zu bewerten – hat mein/e PartnerIn bemerkt, wie glücklich mich ein Gutenachtkuss machen würde? Vielleicht noch nicht.

Wenn Sie mehr über das Thema Bindung und Sexualität erfahren möchten, bietet der In-Mind Artikel "Wird in unserer Kindheit der Grundstein für Untreue im Erwachsenenalter gelegt? Was der individuelle Bindungsstil über sexuelle Untreue verrät" viele weitere spannende Informationen.

Quellen

Allen, J. P., McElhaney, K. B., Kuperminc, G. P., & Jodl, K. M. (2004). Stability and change in attachment security across adolescence. Child Development, 75(6), 1792–1805. PubMed. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2004.00817.x

DiTommaso, E., Brannen-McNulty, C., Ross, L., & Burgess, M. (2003). Attachment styles, social skills and loneliness in young adults. Personality and Individual Differences, 35(2), 303–312. https://doi.org/10.1016/S0191-8869(02)00190-3

Levine, A., & Heller, R. S. F. (2011). Warum wir uns immer in den Falschen verlieben: Beziehungstypen und ihre Bedeutung für unsere Partnerschaft (R. Höner, Trans.). Kailash.

Simpson, J. A., & Rholes, W. S. (2017). Adult attachment, stress, and romantic relationships. Relationships and Stress, 13, 19–24. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2016.04.006

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