Chronische Einsamkeit: Warum Einsamkeit uns noch einsamer machen kann
Einsamkeit kann mehr als ein vorübergehendes Gefühl sein. Für manche wird sie zu einem unsichtbaren Teufelskreis. Chronisch einsame Menschen erleben soziale Ausgrenzung intensiver und finden weniger Freude in Gemeinschaften. Sie zeigen Denkfallen, die den Weg aus der Isolation versperren. Besonders für Jugendliche kann dies schwerwiegende Folgen haben. Doch wie entsteht dieser Teufelskreis und vor allem: Wie lässt er sich durchbrechen?
Jeder Mensch fühlt sich manchmal einsam. Besonders nach bestimmtem Lebensereignissen wie nach dem Verlust eines geliebten Menschen, einem Umzug in ein neues Land, oder einem Jobwechsel kann dieses Gefühl auftreten. Besonders betroffen sind junge Menschen. 40% der 16–24-Jährigen weltweit gaben an, oft oder sehr oft einsam zu sein (27% der über 75-Jährigen) (Hammond, 2018). In Europa waren es sogar 57% der 18–35-Jährigen, die moderat einsam waren (17% stark) und 50% der 36–69-Jährigen (17% stark) (Luhmann et al., 2024). Viele Menschen erleben Einsamkeit nur vorübergehend, während sie für manche zu einem dauerhaften Problem wird, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält. Besonders für Jugendliche kann chronische Einsamkeit schwierig sein, da sie in einer wichtigen Phase sozialer Entwicklung stecken, in der Freundschaften an Bedeutung gewinnen. Chronisch einsame Jugendliche haben ein höheres Risiko für psychische und körperliche Gesundheitsprobleme. Einsamkeit kann sogar genauso schädlich für die Gesundheit sein wie 15 Zigaretten am Tag zu rauchen, und schädlicher als Übergewicht und Bewegungsmangel zusammen (Schnepf et al., 2024).
Wie gehen Menschen mit Einsamkeit um? Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sind motiviert, Einsamkeit zu reduzieren, z.B. indem sie Clubs beitreten oder nach Unterstützung von Freunden suchen. Sie neigen auch dazu, sich selbst übermäßig positiv wahrzunehmen, um ihr Selbstwertgefühl zu schützen. Dabei schreiben sie soziale Erfolge sich selbst zu (z.B. „Ich bin ein netter Mensch”) und geben anderen die Schuld für soziale Misserfolge (z.B. „Das ist keine nette Gruppe”), eine selbstwertdienliche Verzerrung (Shepperd et al., 2008). Dieses Muster tritt jedoch nicht bei chronisch einsamen Menschen auf. Diese neigen stattdessen zu negativen kognitiven Verzerrungen in sozialen Situationen, z.B. achten sie verstärkt auf mögliche Bedrohungen (Spithoven et al. 2017). Wie hängt diese verzerrte Verarbeitung sozialer Informationen mit chronischer Einsamkeit zusammen?
Wie der Kreislauf der Einsamkeit aufrechterhalten wird, zeigte eine Studie (Vanhalst et al., 2015), die Jugendliche vier Jahre lang begleitet hat. Das Forschungsteam untersuchte ihr Einsamkeitsniveau und wie sie auf soziale Inklusion (z.B. eine Einladung zum Mittagessen) und Ausgrenzung (z.B. nicht zu einer Party eingeladen werden) reagieren. Jugendliche berichteten wie sie sich fühlen würden (z.B. traurig, fröhlich, wütend) und welche Ursachen sie den Situationen zuschreiben (z.B. persönliche Eigenschaften, Verhalten anderer, Zufall). Die Ergebnisse zeigen, dass chronisch einsame Jugendliche auf diese sozialen Situationen anders reagieren als ihre weniger oder vorübergehend einsamen Altersgenossen:
- Weniger enthusiastisch nach sozialer Inklusion: Während die meisten Menschen positive Gefühle empfinden, wenn sie sozial einbezogen werden, reagierten chronisch einsame Jugendliche weniger enthusiastisch und sogar unsicher. Auch fühlten sie sich nur erleichtert, was darauf hindeutet, dass soziale Einbindung für sie eher mit der Reduzierung von Anspannung verbunden ist, anstatt mit tiefer Zufriedenheit.
- Sensibler gegenüber sozialer Ablehnung: Chronisch einsame Jugendliche empfanden stärkere negative Gefühle wie Traurigkeit, Wut, Angst und Unsicherheit, wenn sie ausgeschlossen wurden. Menschen mit übersteigerter Empfindlichkeit gegenüber sozialer Ablehnung sind ständig auf der Hut vor sozialen Bedrohungen wie Ablehnung, um diese zu vermeiden.
- Selbstwertschädigende Verzerrung: Chronisch einsame Jugendliche zeigten keine selbstwertdienliche, sondern eine selbstwertschädigende Verzerrung bei Erklärungen für soziale Ereignisse. Sie glaubten, dass Einladungen nur zufällig geschehen und sie selbst keine wichtige Rolle spielten. Bei Ablehnung suchten sie die Schuld bei sich selbst (z.B. ihrer Persönlichkeit).
Dieses Muster chronisch einsamer Jugendlicher – weniger Belohnung durch soziale Inklusion, mehr Schmerz durch soziale Ausgrenzung – schafft einen Teufelskreis, wahrscheinlich aufgrund von selbstwertschädlichen Erklärungen für soziale Situationen. Chronisch einsame Jugendliche meiden soziale Interaktionen, wodurch ihre Einsamkeit verstärkt wird, anstatt sie zu überwinden.
Wie lässt sich der Kreislauf der Einsamkeit durchbrechen? Es reicht nicht, einfach mehr soziale Kontakte zu knüpfen oder soziale Fähigkeiten zu lernen. Wichtig ist, dass einsame Menschen lernen, soziale Situationen anders zu interpretieren, etwa Inklusion auf positive Eigenschaften zurückzuführen (z.B. „Menschen wollen Zeit mit mir verbringen, weil ich freundlich und lustig bin“) und Ausgrenzung als situationsbedingt zu betrachten (z.B. „Vielleicht haben sie vergessen, mich einzuladen, aber das bedeutet nicht, dass ich unbeliebt bin“). Chronisch einsame Menschen könnten besonders davon profitieren, ihre fehlangepassten sozialen Denkmuster zu verändern, um den Teufelskreis der Einsamkeit zu durchbrechen und somit ihr soziales Wohlbefinden zu fördern (Schnepf et al., 2024; Vanhalst et al., 2015).
Literaturverzeichnis
Hammond, C. (2018). Who feels lonely? The results of the world's largest loneliness study. BBC. https://www.bbc.co.uk/programmes/articles/2yzhfv4DvqVp5nZyxBD8G23/who-fe...
Luhmann, M., Schäfer, B., & Steinmayr, R. (2024). Einsamkeit junger Menschen 2024 im europäischen Vergleich. Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/ein...
Schnepf, S. V., d'Hombres, B., & Mauri, C. (Eds.). (2024). Loneliness in Europe. Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-031-66582-0
Shepperd, J., Malone, W., & Sweeny, K. (2008). Exploring causes of the self‐serving bias. Social and Personality Psychology Compass, 2(2), 895-908. https://doi.org/10.1111/j.1751-9004.2008.00078.x
Spithoven, A. W., Bijttebier, P., & Goossens, L. (2017). It is all in their mind: A review on information processing bias in lonely individuals. Clinical Psychology Review, 58, 97-114. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2017.10.003
Vanhalst, J., Soenens, B., Luyckx, K., Van Petegem, S., Weeks, M. S., & Asher, S. R. (2015). Why do the lonely stay lonely? Chronically lonely adolescents’ attributions and emotions in situations of social inclusion and exclusion. Journal of Personality and Social Psychology, 109(5), 932-948. http://dx.doi.org/10.1037/pspp0000051
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