InMinds After Midnight: Funktioniert unser Gehirn nachts wirklich anders?
Mit Midnights entführt uns Taylor Swift in die Welt nächtlicher Gedanken – aber was passiert eigentlich mit unserem Gehirn spät in der Nacht?
Es ist ein grauer Herbsttag in England, ein paar Jahre vor COVID, der erste Monat in Hannes’ erstem Job. Sein innerer Student ist noch nicht ganz angekommen im Schlafrhythmus der Arbeitswelt. Als er zum ersten Schluck Kaffee des Tages ansetzt, schwingt ohne Vorwarnung ein Alarmton in seine Ohrmuschel und malträtiert dann hemmungslos seinen auditiven Kortex. Er sieht auf die Uhr. Es ist 11.04 Uhr. Eine äußerst ungünstige Zeit für den Ausbruch eines Feuers, denn die Einweisung zum Verhalten im Brandfall ist für 15 Uhr vorgesehen. Entenkükengleich folgt er den Kollegen zum Ausgang, in der Hoffnung, den Tag nicht als Brathähnchen-Broiler zu beenden. Vom Parkplatz aus beobachten die Angestellten das Bürogebäude und halten nach Rauchzeichen Ausschau. Alle Kollegen sind noch im Besitz ihrer Augenbrauen, und die Mitarbeiter eines bekannten Reiseunternehmens im Erdgeschoss gehen gleichzeitig noch seelenruhig ihrer Tätigkeit nach. Es brennt also wahrscheinlich nicht lichterloh. Hannes gähnt und trinkt einen Schluck Kaffee.
Das erregt die Aufmerksamkeit des Schweizer Kollegen mit den coolen Schuhen neben ihm, der sich ärgert, anstatt der Kaffeetasse lieber seinen Laptop gerettet zu haben. Sie kommen ins Gespräch, reden ein bisschen über Fußball, das Essen auf der Insel, Brexit, und – nach erneutem Gähnen – seine Forschung zu Schlafmangel. Der Kollege mit den coolen Schuhen ist Marco Hafner und ist auch ein cooler Ökonom. Seine Schlafforschung geht zum Zeitpunkt des Gespräches weltweit durch die Medien. Dr. Hafner hat die Ergebnisse zu diesem Zeitpunkt schon so oft präsentiert, dass er sie aus dem Gedächtnis erzählen kann: Schlafmangel führt in Deutschland zu ökonomischen Verlusten von 56 Milliarden Euro pro Jahr, in Japan, wo die Menschen im weltweiten Vergleich durchschnittlich am wenigsten schlafen, sind es sogar 129 Mrd. Euro (Hafner et al., 2017). Noch schwerwiegender ist allerdings, dass – neben negativen Konsequenzen hinsichtlich mentaler Gesundheit und Leistungsfähigkeit – Menschen im Schnitt sogar früher sterben, wenn sie nicht genug schlafen: Das Risiko eines frühzeitigen Todes einer Person, die zwischen sechs und sieben Stunden pro Nacht schläft, ist 7 Prozent höher als das einer gleichaltrigen Person mit einer “gesunden” Menge an Schlaf – das sind in der Regel zwischen sieben und neun Stunden. Diese Wahrscheinlichkeit frühzeitig zu sterben erhöht sich sogar auf 13 Prozent für Personen die weniger als sechs Stunden Schlaf pro Nacht bekommen. Hannes trinkt einen Schluck Kaffee und beschließt, heute früher ins Bett zu gehen.
Für die Autoren dieses Beitrags und viele andere chronotypische Eulen ist es allerdings schwierig vor Mitternacht einzuschlafen. Als „Eulen“ gelten Menschen, deren innere biologische Uhr so eingestellt ist, dass sie bevorzugt sehr spät ins Bett gehen und auch später am Morgen aufwachen. Daneben gibt es auch noch chronotypische Lerchen: Menschen, die bevorzugt relativ früh ins Bett gehen und früh am Morgen aufwachen. „Eulen“ und „Lerchen“ sind allerdings zwei Extremgruppen, die meisten Menschen liegen irgendwo dazwischen. Eine Forschungsgruppe aus den USA um Andrew Tubbs hat sich nun die Literatur zum nächtlichen Verhalten unserer Spezies angesehen und 2022 die Mind after Midnight Hypothese aufgestellt. Die postuliert, dass nicht nur Schlafmangel, sondern auch langes nächtliches Wachsein negative Auswirkungen haben könnte - unabhängig davon, ob man diese Stunden beispielsweise durch spätes Aufstehen kompensiert. Die Übersichtsstudie (Review) stieß auf großes mediales Interesse: mindestens 65 Online Nachrichtenportale berichteten. Viele dieser Berichte schließen, dass Menschen besser nicht nach Mitternacht wach sein sollten. Steht das aber wirklich so in dem wissenschaftlichen Artikel? Naja. Tatsächlich treten problematisches Ess- und Trinkverhalten, Drogenmissbrauch, und sogar Gewaltverbrechen und Suizide eher nachts auf. Die Autor*innen spekulieren, dies läge eventuell daran, dass das Gehirn nachts “anders” funktioniere. Wenn man sich per Elektroenzephalographie beispielsweise die Hirnaktivität ansieht, ähneln die Gehirnwellen, die das Gerät nachts aufzeichnet mehr denen, die man sonst im Schlaf sieht, als denen bei Tag. Die Studie bezieht sich außerdem auf andere Studien, die darauf hinweisen, dass bei ungewohntem Schlafrhythmus oder mangelndem Schlaf kognitive Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit bei komplexen Sachverhalten, und Problemlösefähigkeiten eher eingeschränkt funktionieren. Hinzu kommt, dass die Inhibition sinkt: also die Fähigkeit, ungewolltes Verhalten nicht auszuführen. Auf lange Zeit könnte das einen unberechenbaren Risikofaktor für Personen mit Suchtgefahr oder Tendenzen sich selbst oder andere durch eine Impulshandlung zu verletzen darstellen.
Wichtig ist allerdings zu beachten, dass die Mind after Midnight Hypothese eben das ist – eine Hypothese. Unsere ‘innere Uhr’, der zirkadiane (lat. ‚circa diem‘, ungefähr ein Tag) Rhythmus, teilt unseren Tag in einen biologischen Tag und eine biologische Nacht. Diese müssen nicht mit den durch den Sonnenstand vorgegebenen Tagen und Nächten übereinstimmen. Die Sonne und vor allem das von ihr ausgestrahlte Licht ist dabei der wichtigste Zeitgeber, also der Faktor, der unseren zirkadianen Rhythmus hauptsächlich bestimmt. Die innere Uhr eines jeden Menschen stellt sich dabei unterschiedlich relativ zu Hauptzeitgeber ein. Dadurch entstehen verschiedene Chronotypen. Doch die Sonne ist nicht der einzige Faktor, der diesen Rhythmus bestimmt (Patke et al., 2019). Auch Arbeitszeiten, der Zeitpunkt von Mahlzeiten, und sogar der Wecker können den Rhythmus zu einem gewissen Grad beeinflussen und verschieben (Elmore et al., 1994). Die Mind after Midnight Hypothese geht allerdings von Personen aus, bei denen sich biologische Tage und Nächte mit den Sonnentagen und -nächten decken. Eine gute Nachricht für Lang- oder besser Spätschläfer*innen: Denn die in der Übersichtsstudie verwendeten Studien maßen die Hirnfunktionen von chronotypischen Eulen für gewöhnlich zu Frühaufsteherzeiten, also Zeiten, zu denen sich vor allem Lerchen wohl fühlen. Passte man die Messzeitpunkte an für Eulen typischere Zeiten an, sahen deren Ergebnisse ähnlich aus wie die der Lerchen. Zudem wurden die Werte oftmals nach Schlafentzug gemessen.
Die Autor*innen selbst weisen darauf hin, dass es nun an der Zeit sei, empirische Studien spezifisch zu dem von ihnen vorgestellten Modell durchzuführen und es zu präzisieren, da viele andere Faktoren in Wechselwirkung mit all den genannten Risiken in Zusammenhang stehen – beispielsweise Schlafstörungen, psychische Probleme, oder andere Faktoren, die das Wachsein spät in der Nacht bedingen können. Nicht zuletzt fallen darunter auch in der bisherigen Studienlage weniger beachtete Chronotypen. Die Forschung bleibt also spannend, und wirft Fragen dazu auf, wie flexible Arbeitszeiten (oder auch Schulzeiten) Menschen in ihrer Gesundheit und Effizienz unterstützen können. Sicher bleibt bis dahin nur: ausreichend Schlaf, bestenfalls der eigenen inneren Uhr folgend, hat einen positiven Effekt in vielen Lebensbereichen, und Programme, die vor allem Risikogruppen bei gutem Nachtschlaf unterstützen, sollten dringend gefördert werden. Auch für alle anderen ist im Zweifel die Schlafmaske die bessere Entscheidung als die nächste Folge auf Netflix – denn falls es doch mal brennt, hat man noch genug kognitive Kapazität den Laptop statt der Kaffeetasse zu retten.
Literaturverzeichnis
Elmore, S. K., Betrus, P. A., & Burr, R. L. (1994). Light, social zeitgebers, and the sleep–wake cycle in the entrainment of human circadian rhythms. Research in Nursing & Health, 17(6), 471–478. https://doi.org/10.1002/nur.4770170610
Hafner, M., Stepanek, M., Taylor, J., Troxel, W.M., & Van Stolk, C. (2016). Why sleep matters — the economic costs of insufficient sleep: A cross-country comparative analysis. Santa Monica, CA: RAND Corporation. https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR1791.html
Patke, A., Young, M. W., & Axelrod, S. (2019). Molecular mechanisms and physiological importance of circadian rhythms. Nature Reviews Molecular Cell Biology, 21(2), 67–84. https://doi.org/10.1038/s41580-019-0179-2
Tubbs, A.S., Fernandez, F., Grandner, M.A., Perlis, M.L., & Klerman, E.B. (2022). The mind after midnight: Nocturnal wakefulness, behavioral dysregulation, and psychopathology. Frontiers in Network Physiology, 1:830338. https://doi.org/10.3389/fnetp.2021.830338
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