Sozialpsychologische Konzepte von Rassismus und Möglichkeiten, gegen Rassismus vorzugehen
Ausgelöst durch die Tötung von George Floyd durch einen US-amerikanischen Polizisten am 25. Mai 2020 in Minneapolis (Minnesota) gibt es in den USA, in Europa und speziell auch in Deutschland eine zunehmende wissenschaftliche, öffentliche und politische Debatte um Rassismus - Der folgende Text versucht, verschiedene Aspekte der Diskussion aus sozialpsychologischer Perspektive zusammenzubringen. Der Fokus liegt dabei auf Deutschland, ein wenig auch auf Europa. Besonders wichtig erscheint mir, einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, wie eine Gesellschaft ohne Rassismus oder zumindest mit weniger Rassismus aussehen könnte und welche Wege dorthin sinnvoll sind. Anmerkungen, Anregungen und Kritik sind willkommen.
Worüber reden wir?
Wer etwas bewegen will, muss wissen, was. Über Rassismus gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen (Fredrickson, 2002; Memmi, 1992). Meine Arbeitsdefinition lautet:
Rassismus ist die Schlechterbehandlung von Menschen, die bestimmten ethnischen Gruppen angehören.
Eine ethnische Gruppe ist eine Gruppe, der die Mitglieder sich selbst zurechnen oder von anderen zugerechnet werden. Ethnische Gruppen sind also soziale Konstruktionen. Einer ethnischen Gruppe zuzugehören, macht keine Aussage über psychologische Gemeinsamkeiten der Gruppenmitglieder (Phinney, 1996).
Manche Auffassungen von Rassismus sind weitgehender. Memmi (1992, S. 103) definiert Rassismus als „die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“. Ich schlage hier bewusst eine engere Definition vor: Erstens: Ichbeschränke mich auf die Ausgrenzung ethnischer Gruppen, um möglichst präzise diskutieren zu können. Zweitens: Ich verzichte auf die Einbeziehung von Annahmen über Ursachen und Funktionen in die Definition. Diese sollten nicht Gegenstand von Definitionen, sondern von Theorien sein.
Häufig wird zwischen strukturellem Rassismus und individuellem Rassismus unterschieden (Osterkamp, 1996, S. 201; zuweilen wird auch noch auf institutionellen Rassismus Bezug genommen, also rassistische Strukturen innerhalb von Institutionen - darauf gehe ich hier nicht ein). Struktureller Rassismus ist die Schlechterbehandlung von Menschen, die bestimmten ethnischen Gruppen angehören, infolge gesetzlicher Vorschriften und Regeln sowie kollektiver
Stereotype über vermeintliche Eigenschaften und Verhaltensweisen dieser Gruppen. Beispiele für rassistische Vorschriften und Regeln sind die Verweigerung der Einreise oder Verweigerung des Wahlrechtes für Menschen ohne Staatsangehörigkeit. Beispiele für kollektive
Stereotype oder Ideologien sind Bilder und Vorstellungen von Geflüchteten, Menschen schwarzer Hautfarbe, JüdInnen, Sinti und Roma, MuslimInnen und Menschen mit Herkunft aus der Türkei, die angeblich "nur Wirtschaftsflüchtlinge" sind, besonders das Geldgeschäft verstehen, notorisch klauen, usw.
Individueller Rassismus ist die Schlechterbehandlung von Menschen, die bestimmten ethnischen Gruppen angehören, durch Individuen, die den benachteiligten Gruppen nicht angehören. Individueller Rassismus basiert oft auf individuellen Vorurteilen. Zu den Ausdrucksformen individuellen Rassismus gehören individuelles diskriminierendes Verhalten und rassistische Gewalt.
Struktureller wie individueller Rassismus kann unterschiedliche Formen annehmen. Er kann brutal daherkommen, indem der Fremdgruppe klar abwertende Merkmale zugeschrieben werden und ihr mit offener Ausgrenzung und Gewalt begegnet wird. Er kann aber auch subtil und scheinbar wohlwollend sein, wenn die Stereotype über die fremde Gruppe deren angebliche Hilflosigkeit hervorheben. Auch solch benevolentes Verhalten kann rassistisch sein, wenn es Menschen in dauerhafter Abhängigkeit hält (Anderson, 2010).
Explizite Abwertungen, Ausgrenzungen und Gewalt sind klare negative Verhaltensweisen. Offen ist jedoch zuweilen, ob solche Zurückweisungen oder Angriffe durch die Mitgliedschaft des/der Betroffenen in einer abgelehnten Fremdgruppe begründet oder an individuelle Personen adressiert sind, unabhängig von ihrer Gruppenmitgliedschaft. Das macht es manchmal auch schwierig, zuverlässige Statistiken über das Ausmaß rassistischer Übergriffe zu erstellen: Bei rassistischen Schmierereien ist das Motiv der TäterInnen noch leicht zu ermitteln. Bei Beleidigungen oder Gewalttaten kann die Motivation durch Betroffene oder auch durch Dritte (z.B. durch die Polizei) oft nur unterstellt werden, solange die TäterInnen dazu nicht aussagen.
Was als Rassismus verstanden wird, ist aus der Perspektive von Betroffenen und TäterInnen oft unterschiedlich. Fragen oder Äußerungen können als rassistisch verstanden werden, auch wenn sie nicht so intendiert sind: Schwarze Deutsche beispielsweise können sich diskriminiert fühlen, wenn sie immer wieder mit der Äußerung konfrontiert werden, dass sie doch erstaunlich gut Deutsch sprächen, oder wenn sie immer wieder die Frage gestellt bekommen, wo sie denn nun wirklich herkämen. Perspektivendifferenzen zwischen Mitgliedern der diskriminierenden Gruppe und den Diskriminierten betreffen also nicht nur das Ausmaß wahrgenommener Diskriminierung, sondern auch deren Form. In der politischen Diskussion gibt es zuweilen eine Auseinandersetzung darüber, ob Mitglieder der Mehrheit überhaupt zu validen Überlegungen und empirischer Forschung zu Rassismus beitragen können. Unstrittig ist, dass eine Analyse von Rassismus die Perspektive von Betroffenen gleichwertig, vielleicht sogar vorrangig einbeziehen muss. Die ausschließliche Autorisierung einer Minderheitenperspektive könnte die Erfassung und Beschreibung des Phänomens allerdings verzerren und damit nur unzureichend zu effektiven Veränderungsstrategien beitragen.
Die Folgen von Rassismus können für die Betroffenen brutal sein. Rassismus führt zu Beeinträchtigungen im Beschäftigungs- und Bildungsbereich, z.B. in Form von Arbeitsverboten für Menschen im Asylverfahren oder von Erschwernissen beim Zugang zu weiterführenden Bildungs- und Ausbildungsgängen. Rassismus nimmt Partizipations- und Einflussmöglichkeiten (Bourdieu, 1983). Empirisch belegt ist, dass rassistische Diskriminierungserfahrungen zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen können. Rassismus beeinträchtigt die Selbstwertschätzung, Lebenszufriedenheit, Selbstwirksamkeit und die Fähigkeit, sich an neue Lebenssituationen anzupassen (Fonseca de Freitas et al., 2018).
Rassismus hat auch Folgen für die von Rassismus geprägten Gesellschaften selbst. Rassismus gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die innere Sicherheit (Normen beitragen: Zu erwarten ist beispielsweise, dass der aktuelle Ausschluss von Menschen auf der Flucht an den Südküsten Europas, in der Türkei und im Norden Afrikas Rechtfertigungsbemühungen nach sich zieht, indem die Opfer dieser Ausgrenzung selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden (Lerner, 1980). Das heißt: Es kommt zur Entwicklung neuer rassistischer Stereotype. . Rassismus kann zur Verschiebung gesellschaftlicher
Mögliche Ursachen
Veränderungen gesellschaftlicher Missstände sollten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Ursachen dieser Missstände aufbauen. Struktureller und individueller Rassismus haben je eigene Ursachen und Folgen – sie sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Auf der strukturellen oder gesellschaftlichen Ebene schafft die Ungleichverteilung von Produktion und Produktionsmitteln gesellschaftliche Schichtungen und Machtunterschiede. Die sich daraus ergebende Schlechterbehandlung von manchen Menschen und die Besserstellung von anderen führt zu Rechtfertigungsdruck: Wie kann man vor dem Hintergrund der Errungenschaften der Aufklärung, der Menschenrechte und des Gebots der Nächstenliebe die z.T. massive Ungleichbehandlung erklären? Um dieses moralische Dilemma zu lösen, erfinden Gesellschaften gemeinsame Gruppenmitgliedschaften für die Benachteiligten (und für sich selbst) sowie gesellschaftliche Stereotype über diese Gruppen, die dann scheinbar erklären, warum bestimmte Menschen und Menschengruppen in unterlegenen Positionen verharren: Sinti und Roma, JüdInnen, Wirtschaftsflüchtlinge etc. „strengen sich halt nicht genug an“, betrügen, sind gewalttätig, etc. Beispielsweise war und ist die künstliche Zusammenfassung von Menschen schwarzer Hautfarbe zu einer homogenen Gruppe und die gleichzeitige Entwicklung abwertender Stereotype über diese Gruppe ein Rechtfertigungsversuch für Ausbeutung und Sklaverei (Miles, 1991): Sie diente und dient dem Machterhalt und der Legitimation der Macht der nordeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften. Haben sich solche kollektiven Stereotype in Gesellschaften einmal festgesetzt, werden sie über Mythen, Kunst und Medien weitertransportiert und an neu hinzukommende Gesellschaftsmitglieder weitervermittelt. Manchmal kommen gesellschaftliche Stereotype offen daher, wenn etwa historische rassistische Militäreinsätze (z.B. der „Marburger Jäger“) gefeiert werden, manchmal sind sie aber auch in Erzählungen (z.B. von den „diebischen Zigeunern"), Ortsbezeichnungen (z.B. „Mohrenstraße“), Literatur oder Denkmälern verborgen.
Individuelles rassistisches Verhalten geht oft mit Vorurteilen der AkteurInnen einher, d.h. negativen und verallgemeinernden Vorstellungen über fremde Gruppen. Individuelle Vorurteile und individueller Rassismus basieren wesentlich auf der Fähigkeit von Menschen, Kategorien zu bilden und Menschen "im Kopf" zu Gruppen zusammenzufassen. Zu solchen Gruppen kann man dann andere und sich selbst zuordnen. Die Selbstzuordnung zu Gruppen dient der Identitätsfindung - wer ich bin, hängt wesentlich von den Gruppen ab, denen ich mich zugehörig fühle. Wenn es darüber hinaus gelingt, die eigene Gruppe positiv von fremden Gruppen abzugrenzen, indem die Fremden abgewertet werden, macht das die eigene Gruppenzugehörigkeit klarer und hebt die eigene Selbstwertschätzung (Tajfel, 1978).
Struktureller und individueller Rassismus korrespondieren miteinander und verstärken sich gegenseitig: Rassistische Strukturen, z.B. in Form einschränkender Vorschriften für ethnische Gruppen, lassen sich in demokratischen Gesellschaften nur durchsetzen, wenn eine hinreichende Zahl der Gesellschaftsmitglieder diese ohne größeren Widerstand zumindest hinnimmt. Zudem greifen diskriminierende Menschen auf Zielgruppen zurück, die ihnen in Form von gesellschaftlich geteilten Stereotypen zur Verfügung gestellt werden. Rassistinnen und Rassisten nutzen diese gesellschaftlichen Angebote, um damit ihr Bedürfnis zur Aufwertung der eigenen Gruppe und der daran gebundenen eigenen Identität zu befriedigen. Mit anderen Worten: Die Auswahl der Zielgruppen von rassistischer Diskriminierung und die Inhalte von Vorurteilen gegen diese Gruppen folgen gesellschaftlichen Vorgaben (Dovidio, Gaertner, & Bachman, 2001).
Den Mitgliedern einer Gesellschaft ist in der Regel bekannt, welche die gängigen Zielgruppen von Ausgrenzung sind und wie die negativen Stereotype über diese Gruppen aussehen. Das Ausmaß individueller Vorurteilshaftigkeit, individuellen Rassismus, ist u.a. davon abhängig, inwieweit jemand die gesellschaftlich offerierten negativen Bilder über eine fremde Gruppe für sich akzeptiert: Rassistinnen und Rassisten greifen gesellschaftliche Stereotype auf, machen sie sich zu eigen und spiegeln sie in ihrem Verhalten wider. Weniger voreingenommene Menschen versuchen, negative gesellschaftliche Stereotype als Grundlage für die eigene Urteilsfindung zu unterdrücken. Das setzt Sensibilität und Aufmerksamkeitslenkung auf die eigene Urteilsfindung voraus und braucht kognitive Kapazität. Auch wenn dies einer wenig voreingenommenen Person in der Regel gut gelingen mag, steht auch eine solche Person in der Gefahr, in Stresssituationen die gesellschaftlichen Stereotype wieder zuzulassen (Devine, 1989). Das könnte beispielsweise die Lehrperson betreffen, die in heftiger Auseinandersetzung mit einer Schülerin mit Migrationshintergrund die Kontrolle über den Einfluss gesellschaftlicher Stereotype verliert und das deviante Verhalten der Schülerin dann doch mit vorgeblichen Eigenschaften ihrer Herkunft erklärt. Wir alle - auch die vermeintlich Vorurteilsfreien unter uns - stehen in der Gefahr, auf gesellschaftlich verfügbare Stereotype zurückzufallen und zu diskriminieren.
Wo wollen wir hin?
Wer etwas bewegen will, muss wissen, wohin. Wie kann man sich eine Gesellschaft vorstellen, die nicht durch rassistische Strukturen geprägt ist und in der von Rassismus geprägte Interaktionen keine Rolle spielen? Eine oft formulierte Forderung in diesem Zusammenhang ist die nach "color-blindness", also der Verzicht auf die Nutzung von Kategorien und Gruppenzuschreibungen. Alle Menschen sollen gleich sein. Das würde z.B. bedeuten, auf die administrative Erfassung von ethnischer Herkunft, Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit ganz zu verzichten. Aber Menschen sind eben nicht alle gleich. Vornehmlich aus den USA kommt das Argument, dass die Forderung zum Übersehen von Gruppenunterschieden zu „color-blind racism“ führen kann. Gemeint ist damit eine Form von Rassismus, die entsteht, wenn man Gruppenzugehörigkeiten unsichtbar macht und damit objektiv existierende Ungleichheiten nicht mehr erkennbar werden: Der Verzicht auf die Erfassung der ethnischen Herkunft würde beispielsweise Benachteiligungen von ethnischen Minderheiten auf dem Wohnungsmarkt oder im Berufsleben verbergen. Eine Lösung für diesen Konflikt zwischen dem Verzicht auf Gruppenunterscheidungen und der notwendigen Beachtung von Unterschieden könnte die Herstellung eines politischen Konsens sein: Im Alltag gehen wir "color-blind" miteinander um, d.h. wir verzichten auf Fragen nach der Herkunft, auf Bemerkungen über Sprachkompetenzen etc. Ethnische Herkunft wird erst dann als Merkmal erfasst, wenn es darum geht, Schlechterstellung zu benennen und anzugehen. Allerdings stößt eine solche Zielsetzung manchmal auf den Widerstand ethnischer Minderheiten, wenn diese auf die Bedeutung ihrer Gruppenmitgliedschaft verweisen, u.a. in Form von öffentlicher Symbolisierung durch z.B. Kleidung.
Was kann man tun?
Wer etwas bewegen will, muss schließlich wissen, wie. Die Unterscheidung von strukturellem und individuellem Rassismus ist, auch wenn sie zusammenhängen, für Interventionen von besonderer Bedeutung. Menschen neigen oft dazu, die strukturellen Ursachen von Phänomenen zu unterschätzen und personale Ursachen zu überschätzen (Watson, 1982). Dies lässt sich auch beobachten, wenn es um die Erklärung von Rassismus geht: Zuweilen werden strukturell-rassistische Phänomene allein aus dem Handeln von Einzelpersonen heraus erklärt und Interventionen fokussieren dann - fälschlicherweise - auf Einzelpersonen. Maßnahmen gegen strukturellen Rassismus müssen aber bei den gesellschaftlichen Strukturen und den dafür Verantwortlichen ansetzen.
Sozialwissenschaftliche Interventionen setzen in der Regel zwei Dinge voraus: Änderungsmotivation und geeignete Mittel. Auch Maßnahmen gegen strukturellen Rassismus erfordern den politischen Willen, entsprechende Maßnahmen anzugehen. Der scheint mir auf politischer Ebene nicht immer vorhanden. Erforderlich ist daher politischer Druck - also Wahlverhalten zugunsten von Parteien, die Rassismus zum Thema machen und mit erfolgversprechenden Mitteln gegen Rassismus vorgehen wollen. Wir alle in Deutschland und Europa – eingeschlossen Menschen ohne Wahlrecht– können einen solchen politischen Willen gegen Rassismus auch außerparlamentarisch deutlich machen und im Vorfeld von Wahlen signalisieren. Äußerungen von PolitikerInnen zu Rassismus und die Maßnahmen, die sie in der Regierung vorantreiben (oder unterlassen) bzw. in der Opposition einfordern, sollten wir vernehmlich öffentlich verstärken oder kritisieren.
Wenn struktureller Rassismus mit den historisch geprägten abwertenden Stereotypen über fremde Gruppen zusammenhängt, bedeutet das, Äußerungen und Symbole der Abwertung und Diskriminierung in den Blick zu nehmen. Dazu gehören die Analyse der Inhalte von Schulbüchern und die angemessene Aufarbeitung von ansonsten übersehenen Symbolen des Rassismus wie z.B. Denkmälern oder Bezeichnungen von Straßen, Orten und Gebäuden, die mit Rassismus historisch oder aktuell in Zusammenhang stehen.
Proteste gegen Rassismus und rassistische Übergriffe sind friedlich. Wenn Gewalt aufkommt, richtet sich diese gegen rechte Gruppierungen, Ordnungskräfte und Geschäfte oder Gebäude, die als RepräsentantInnen des staatlichen Systems und des Kapitals angesehen werden. Lokale Geschäfte werden häufig von Angriffen zunächst ausgenommen. Die Proteste symbolisieren damit die Konfliktlinie: hier die protestierenden Benachteiligten und diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren – dort die RassistInnen, die unterstellt rassistische Staatsmacht und ihre RepräsentantInnen wie z.B. die Polizei (Reicher, 1987). Mit zunehmender Dauer von Protesten verschwimmt diese Symbolik oft: Auch lokale Geschäfte werden attackiert, es kommt zu ungezielter Gewalt. Dies ist einerseits Folge der zunehmenden Beteiligung weitgehend unpolitischer krimineller Plündernder, andererseits aber auch Hinweis auf den Umschlag von Reform in Revolution: Die undifferenzierte Zerstörung signalisiert, dass das System und sein historisches Erbe insgesamt beseitigt und durch ein neues, weniger repressives und rassistisches ersetzt werden muss. Die Frage, wie rassistischen gesellschaftlichen Strukturen und rassistischen Individuen zu begegnen sei, stößt an verschiedenen Stellen auf diese grundsätzliche Unterscheidung.
Außerparlamentarische Aufforderungen zur Thematisierung von Rassismus und Willenskundgebungen gegen Rassismus beeinflussen nicht nur parlamentarische Vertretende, Parteien und Meinungsführende, sie verändern auch die Wahrnehmungen potentieller TäterInnen von Rassismus: Diese neigen oft dazu, die Zahl derjenigen zu überschätzen, die ihre rassistischen Positionen teilen (Watt & Larkin, 2010). Massive öffentliche Proteste verändern solche verzerrten Wahrnehmungen. Proteste, Politik, die eindeutige Positionierung von VertreterInnen gesellschaftlicher Gruppen und die über sie alle berichtenden Medien setzen Normen für das, was gesellschaftlich mehrheitlich geteilt wird und was nicht. Zentral für die Setzung antirassistischer Normen ist darüber hinaus, wie die Strafverfolgungsbehörden mit rassistischen Äußerungen und rassistischer Gewalt umgehen. Solche Straftaten sind eindeutig und unmittelbar zu sanktionieren. Großzügige Tolerierung verschiebt das Fenster des Sag- und Machbaren ins Negative.
Wenn man zu der Überzeugung kommt, dass Rassismus ein Übel ist, welches insbesondere vom Rassismus Betroffene, aber auch die Gesellschaft als Ganzes massiv negativ beeinflusst, gilt es, dagegen anzugehen. Für die Willigen aus der mächtigeren Gruppe der potentiell Diskriminierenden ist eine wichtige Frage zu beantworten: Welche Form von Unterstützung wollen sie bieten? Solche, die unmittelbares Leid lindert, oder solche, die darüber hinaus mit den Betroffenen gemeinsam die politische und gesellschaftliche Gleichstellung von diskriminierten Gruppen fördert? Die englischsprachige Unterscheidung von "benevolent support vs. political activism" macht den Unterscheid deutlich (Louis et al., 2019). Antirassistische Initiativen gegen Rassismus können nur dann nachhaltig wirken, wenn sie dazu beitragen, unterdrückte Gruppen in die Lage zu versetzen, selbstverantwortlich effektiv ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen. Das bedeutet z.B. Zugang zu Bildung, substantielle politische Interessensvertretung und Wahlrecht. In diesem Zusammenhang kommt auch immer wieder die Forderung auf, dass sich unterdrückte und von Rassismus betroffene Gruppen stärker selbst für ihre Interessen einsetzen müssten. Dem kann man zustimmen. Das Argument verkennt allerdings, dass von Rassismus betroffene Gruppen oft nicht in dem Maße ihre Argumente vortragen können und Gehör finden, wie es notwendig wäre, um Einfluss zu nehmen. Außerdem setzt politische Beteiligung und streitbare Einmischung eine Form von Selbstwirksamkeit voraus, die von Mitgliedern unterlegener Gruppen oft nur schwer zu erwerben ist.
Immer wieder gibt es die Diskussion, ob "man" sich überhaupt mit RassistInnen so auseinandersetzen sollte, dass man sie als GesprächspartnerIn ernst nimmt und mit ihnen auf Augenhöhe diskutiert. Ein zentrales Argument für die Verweigerung einer Auseinandersetzung mit RassistInnen ist, dass ein solcher diskursiver Austausch, vor allem dann, wenn er öffentlich ausgetragen wird, eine Plattform für die Verbreitung rassistischer Ideologien bieten und so zu deren Aufwertung beitragen würde. Anderseits gilt aber auch: Die Grundlage parlamentarischer Demokratien ist die strittige Auseinandersetzung um Argumente - solange sie nicht strafbar sind. Die grundsätzliche Verweigerung einer Diskussion birgt die Gefahr einer dauerhaften Spaltung der Gesellschaft.
Auch Initiativen gegen individuellen Rassismus haben oft mit dem Problem zu kämpfen, dass Menschen mit rassistischen Überzeugungen Interventionen gegen ihre Überzeugungen eher aus dem Weg gehen. Das betrifft z.B. die Gegenrede gegen rassistische Äußerungen im Internet: Die Gefahr ist groß, dass RassistInnen in ihren Filterblasen verbleiben und Gegenargumenten ausweichen. Aber zumindest bei den nicht völlig Verfestigten sind oft dann bedeutsame Veränderungen zu erzielen, wenn sie die Konfrontation mit Rassismus und seinen Folgen nicht vermeiden können. Deshalb kommt Institutionen wie der Schule bei Antirassismusmaßnahmen eine besondere Bedeutung zu, weil hier ein Ausweichen schwer ist.
Maßnahmen gegen individuellen Rassismus unterhalb der Strafbarkeitsgrenze basieren oft auf Überzeugungsversuchen, d.h. Versuchen, durch Wissensvermittlung, Argumentationen und Appelle, rassistische Einstellungen zu verändern. Zuweilen wird dabei erhofft, dass allein das Vortragen der "richtigen" Argumente die Gegenseite von ihren Überzeugungen abbringen würde. Psychologisch betrachtet ist das nicht wahrscheinlich: Stereotype über die Fremden und ihre vermeintlichen Eigenschaften sind oft im Überzeugungssystem der Vorurteilstragenden tief verankert. Veränderungen sind daher schwierig, weil sie auch Veränderungen in anderen grundsätzlichen Lebensüberzeugungen nach sich ziehen würden (Festinger, 1957). Überzeugungsversuche müssen daher wiederholt werden und die Adressierten müssen Gelegenheit haben, über die Informationen nachzudenken. Überzeugungsveränderungen brauchen Zeit (Moscovici, 1980). Ein wirksames Element von Überzeugungsversuchen kann die Aufforderung sein, doch einmal über die eigenen stereotypen Vorstellungen nachzudenken und zu überlegen, wie diese im Widerspruch stehen zu eigenen Vorstellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit, den Menschenrechten und dem Gebot der Nächstenliebe (Rokeach, 1971), ohne von den Angesprochenen gleich und unmittelbar ein öffentliches Bekenntnis zum Erfolg der Bekehrungsversuche zu erwarten.
Zu beachten ist außerdem, dass rassistische Überzeugungen – wie andere wichtige Überzeugungen auch – oft sozial geteilt werden. Das öffentliche Bekenntnis, die eigenen Bilder über Menschen schwarzer Hautfarbe, MuslimInnen, Geflüchtete etc. geändert zu haben, ruft nicht nur kognitive Dissonanz in den Individuen hervor, sondern gefährdet auch Netzwerke und Freundeskreise (Festinger, 1954). Überzeugungsversuche dürfen daher nicht allein in der inhaltlichen Debatte bestehen – sie müssen u.U. auch neue soziale Netzwerke anbieten, wie manche Rassismus-Ausstiegsprogramme dies auch tun (vgl. z.B. https://www.exit-deutschland.de/ausstieg/).
Neben Wissensvermittlung gibt es ein zweites, oft eingesetztes und wirksames Mittel gegen Vorurteile und rassistische Überzeugungen: die Schaffung von Kontakt mit der abgelehnten und ausgegrenzten Gruppe (Pettigrew & Tropp, 2011). Die Herstellung von Kontakt kann nachweislich helfen, Ängste vor "den Fremden" abzubauen, die eigenen Stereotype in Frage zu stellen und die Gefühle und Betroffenheiten von diskriminierten Gruppen besser nachzuvollziehen (Lemmer & Wagner, 2015).
Kontakt schließt die Kooperation aller Beteiligten ein: die der Menschen mit rassistischen Überzeugungen und die der davon Betroffenen. Mitgliedern der (weißen) Mehrheit hilft Kontakt mit diskriminierten Minderheiten, deren Diskriminierung nachzuvollziehen. Studien zeigen allerdings, dass Kontakt bei Mitgliedern diskriminierter Gruppen dazu führen kann, den ihnen entgegentretenden strukturellen Rassismus nicht mehr zu erkennen – eben weil die Interaktion mit den Mitgliedern der mächtigen Gruppe erfreulich verlaufen ist (Dixon et al., 2010). Das nimmt die Kraft, gegen strukturellen Rassismus vorzugehen. Die Konsequenz, die einige AktivistInnen aus der diskriminierten Minderheit daraus ziehen, ist: Für eine wirklich grundlegende Veränderung der strukturell rassistischen Grundlagen westlicher Gesellschaften sind zu enger Kontakt und Kooperation mit der mächtigen (weißen) Mehrheit (zunächst) zu meiden.
Rassismus ist ein Übel, das insbesondere Betroffene, aber auch die Gesellschaft als Ganzes massiv negativ beeinflusst. Daraus ergibt sich nach meiner Auffassung die Notwendigkeit und die Pflicht, gemeinsam dagegen anzugehen. Gegen Rassismus sind alle unterstützenden Kräfte zu mobilisieren.
Quellen:
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Dovidio, J. F., Gaertner, S. L., & Bachman, B. A. (2001). Racial bias in organizations: The role of group processes in its causes and cures. In M. E. Turner (Ed.), Group at work: Theory and research (pp. 415–444). London: LEA.
Fonseca de Freitas, D., Fernandes-Jesus, M., Ferreira, P. D., Coimbra, S., Teixeira, P. M., de Moura, A., Gato, J., Marques, S. C., & Fontaine, A. M. (2018). Psychological correlates of perceived ethnic discrimination in Europe: A meta-analysis. Psychology of Violence, 8, 712-725. http://dx.doi.org/10.1037/vio0000215
Fredrickson, G. M. (2002). Racism. A short history. Princeton NJ: Princeton University Press.
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Bildquellen:
Ich danke Thorsten Bonacker, Maria-Therese Friehs, Jens Hellmann, Patrick Kotzur, Carmen Lienen, Inga Lisa Pauls, Gerd Richter und Eckhard Rohrmann für ihre hilfreichen Kommentare zu einer ersten Version dieses Manuskripts.
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