„Aber der ist ja echt ein bisschen komisch…“ – Sind Mobbing-Opfer wirklich „anders“?
„Na, so wie die immer rumläuft…“, „Der sagt ja nie was – ist doch klar, dass keiner was mit dem machen will“, „Die beiden nerven total – die sind selbst schuld, dass sie’s immer abbekommen“ – derartige Rechtfertigungen bekommen Lehrkräfte teilweise zu hören, wenn ein Mobbing-Fall in der Klasse aufgedeckt wurde. Auch unter Erwachsenen kursieren unterschiedliche Annahmen darüber, wer zum Opfer von Mobbing wird und warum. Was zeigt die Forschung – welche Merkmale stellen Risikofaktoren dar?
Mobbing bedeutet, dass jemand systematisch schikaniert wird. Die Opfer werden über einen längeren Zeitraum immer wieder erniedrigt, beleidigt, lächerlich gemacht oder körperlich angegriffen. Teilweise ziehen sich die Schikanen über Jahre hinweg. Da drängt sich für die ein oder andere Person möglicherweise die Frage auf, ob es nicht vielleicht etwas mit dem Opfer selbst zu tun haben könnte: Zu schüchtern? Zu auffällig? Irgendwie anders?
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Opfer von Mobbing häufiger bestimmte Merkmale aufweisen: wenig Ansehen unter Gleichaltrigen, schwache soziale Kompetenzen, Ängstlichkeit, Depressivität und ein negatives Selbstbild (Cook et al., 2010). Weiterhin sind Mobbing-Opfer eher übergewichtig und haben schlechtere schulische Leistungen. Um zu prüfen, ob dies Risikofaktoren sind, ist es wichtig längsschnittliche Studien hinzuzuziehen. Denn manches könnte auch eine Folge der Opfer-Erfahrung sein.
Im Längsschnitt zeigt sich, dass Isoliertheit sowie ein negatives Selbstbild eine spätere Viktimisierung vorhersagen. Viktimisierung meint in diesem Zusammenhang, zum Opfer von Mobbing zu werden. Betroffen sind vor allem diejenigen, die sich in sozialen Situationen wenig zutrauen, Personen, denen es beispielsweise schwer fällt Kontakte zu knüpfen oder sich durchzusetzen (Egan & Perry, 1998). Unterstützung durch Freunde kann hingegen vor Mobbing schützen (Kendrick et al., 2012). Hinsichtlich physischer Merkmale fanden Forschende heraus, dass körperlich kleine Jugendliche mit höherer Wahrscheinlichkeit später gemobbt werden. Für Körpergewicht wurde kein längsschnittlicher Zusammenhang mit späterer Viktimisierung gefunden (Kim et al., 2009). Es werden vor allem diejenigen schikaniert, die von Klassenkamerad*innen als schwach wahrgenommen werden (Egan & Perry, 1998). Weiterhin wurde mehrfach bestätigt, dass internalisierende Probleme, also ängstliche, depressive und zurückgezogene Verhaltensweisen, der Viktimisierung vorausgehen (Kljakovic & Hunt, 2016). Jemand, der eher ängstlich und in sich gekehrt ist, hat also ein erhöhtes Risiko, später zur Zielscheibe von Mobbing zu werden.
Dass die Opfer oft von vorneherein ängstlicher, niedergeschlagener und zurückgezogener sind, heißt jedoch keineswegs, dass es ihnen „ohnehin schlecht gegangen“ wäre und das Mobbing keinen Unterschied mehr macht. Vielmehr handelt es sich um einen Teufelskreis: Opfer-Erfahrungen ziehen einen Anstieg von Ängstlichkeit und Depressivität bis hin zu Suizidgedanken, Selbstverletzung und Suizidversuchen nach sich. Weiterhin greifen Opfer von Mobbing in ihrer weiteren Entwicklung häufiger zu Drogen und weisen im Laufe ihres Lebens einen generell schlechteren Gesundheitszustand auf (Moore et al., 2017). Außerdem neigen diejenigen, die in ihrer Kindheit oder Jugend gemobbt wurden, mit höherer Wahrscheinlichkeit im jungen Erwachsenenalter zu Übergewicht (Baldwin et al., 2016; Mamun et al., 2013).
Der größte Risikofaktor für Mobbing sind frühere Mobbing-Erfahrungen. Das heißt: wer schon Opfer von Mobbing war, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft sein (Kljakovic & Hunt, 2016). Überraschenderweise kann die Rolle im Mobbing-Geschehen auch wechseln. Frühere Täter*innen haben gleichfalls ein erhöhtes Risiko zum Opfer zu werden (Walters, 2021) – möglicherweise, weil ihr Verhalten nicht mehr toleriert wird und stattdessen aggressive Reaktionen auf sich zieht. Umgekehrt werden Opfer ebenso häufig zu Täter*innen. Diejenigen, die schon in Mobbing involviert waren, bleiben es also höchstwahrscheinlich auf der einen oder der anderen Seite.
Sind die Opfer von Mobbing also anders? Provokativ könnte man diese Frage mit „Ja“ beantworten. Mobbing-Opfer unterscheiden sich durchaus in mancher Hinsicht von Gleichaltrigen ohne Mobbing-Erfahrung. Manche dieser Unterschiede sind schlichtweg Folge dieser oftmals traumatischen Erfahrung. Wer Opfer von Mobbing wurde, entwickelt mit höherer Wahrscheinlichkeit gesundheitliche Probleme wie Substanzkonsum oder Adipositas. Einige Merkmale machen Heranwachsende jedoch tatsächlich anfälliger für Mobbing, insbesondere Hinweise auf Schwäche wie eine geringere Körpergröße, ein negatives Selbstbild, soziale Unsicherheit und fehlende Freundschaften.
Dass die Betroffenen bestimmte Merkmale haben, bedeutet allerdings nicht, dass sie an ihrer Situation selbst schuld sind. Umgekehrt ist es auch nicht sinnvoll, diese individuellen Risikofaktoren zu leugnen, damit sich die Opfer ihr Unglück nicht selbst zuschreiben (Arseneault et al., 2010). Besser ist, das Wissen zu Risikofaktoren zu nutzen. Es hilft, um gefährdete Individuen zu erkennen und gezielt Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Viele individuelle Risikomerkmale können durch ungünstige äußere Einflüsse erklärt und somit auch reduziert werden. Soziale Fertigkeiten können trainiert, internalisierende Symptome behandelt und das Selbstbild gestärkt werden. Gleichzeitig dürfen natürlich auch Risikofaktoren nicht vernachlässigt werden, die es wahrscheinlicher machen, dass eine Person zum Täter oder zur Täterin wird. Die Stärkung von sozial-emotionalen Kompetenzen, die aggressives oder schikanierendes Verhalten verringern, muss ein wesentlicher Aspekt der Präventionsarbeit sein. Zudem gibt es Risikofaktoren im Umfeld wie ein schlechtes Schulklima oder familiäre Probleme (Cook et al., 2010; Kim et al., 2009), an denen gearbeitet werden kann. Dies kommt letztlich allen zu Gute, nicht nur den potenziellen Opfern von Mobbing.
Literaturverzeichnis
Arseneault, L., Bowes, L., & Shakoor, S. (2010). Bullying victimization in youths and mental health problems: 'much ado about nothing'? Psychological Medicine, 40(5), 717–729. https://doi.org/10.1017/S0033291709991383
Baldwin, J. R., Arseneault, L., Odgers, C., Belsky, D. W., Matthews, T., Ambler, A., Caspi, A., Moffitt, T. E., & Danese, A. (2016). Childhood bullying victimization and overweight in young adulthood: A cohort study. Psychosomatic Medicine, 78(9), 1094–1103. https://doi.org/10.1097/PSY.0000000000000388
Cook, C. R., Williams, K. R., Guerra, N. G., Kim, T. E., & Sadek, S. (2010). Predictors of bullying and victimization in childhood and adolescence: A meta-analytic investigation. School Psychology Quarterly, 25(2), 65–83. https://doi.org/10.1037/a0020149
Egan, S. K., & Perry, D. G. (1998). Does low self-regard invite victimization? Developmental Psychology, 34(2), 299–309. https://doi.org/10.1037//0012-1649.34.2.299
Kendrick, K., Jutengren, G., & Stattin, H. (2012). The protective role of supportive friends against bullying perpetration and victimization. Journal of Adolescence, 35(4), 1069–1080. https://doi.org/10.1016/j.adolescence.2012.02.014
Kim, Y. S., Boyce, W. T., Koh, Y.‑J., & Leventhal, B. L. (2009). Time trends, trajectories, and demographic predictors of bullying: A prospective study in Korean adolescents. The Journal of Adolescent Health, 45(4), 360–367. https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2009.02.005
Kljakovic, M., & Hunt, C. (2016). A meta-analysis of predictors of bullying and victimisation in adolescence. Journal of Adolescence, 49, 134–145. https://doi.org/10.1016/j.adolescence.2016.03.002
Mamun, A. A., O'Callaghan, M. J., Williams, G. M., & Najman, J. M. (2013). Adolescents bullying and young adults body mass index and obesity: A longitudinal study. International Journal of Obesity, 37(8), 1140–1146. https://doi.org/10.1038/ijo.2012.182
Moore, S. E., Norman, R. E., Suetani, S., Thomas, H. J., Sly, P. D., & Scott, J. G. (2017). Consequences of bullying victimization in childhood and adolescence: A systematic review and meta-analysis. World Journal of Psychiatry, 7(1), 60–76. https://doi.org/10.5498/wjp.v7.i1.60
Walters, G. D. (2021). School-age bullying victimization and perpetration: A meta-analysis of prospective studies and research. Trauma, Violence & Abuse, 22(5), 1129–1139. https://doi.org/10.1177/1524838020906513
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